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Zwischen Rauschen und Rhythmus – Warum Kondratjews Zyklen keine Sicherheit geben

Von Dr. Oliver Everling | 23.Juli 2025

Die Suche nach Orientierung an den Finanzmärkten gleicht dem Versuch, in einem Sturm mit Kompass und Sternen zu navigieren – beides hilfreich, aber keineswegs unfehlbar. Dr. Georg von Wallwitz, Gründer der Münchner Vermögensverwaltung Eyb & Wallwitz, wagt in seinem aktuellen Börsenblatt dennoch eine Standortbestimmung der globalen Aktienmärkte und findet Inspiration bei einem alten Bekannten der ökonomischen Zyklenforschung: Nikolai Kondratjew, dem wohl bedeutendsten Ökonomen der Sowjetzeit. Kondratjew prägte in den 1920er Jahren die Theorie der „langen Wellen“, jener angeblich über Jahrzehnte andauernden Innovations- und Wachstumszyklen, die wirtschaftliche Entwicklungen maßgeblich prägen sollen. Und tatsächlich: Wer die Geschichte der Industrialisierung, Elektrifizierung, Automobilisierung, Digitalisierung und nun Künstlichen Intelligenz betrachtet, kann der Versuchung schwer widerstehen, darin ein gewisses Muster zu erkennen.

Doch Wallwitz bleibt skeptisch gegenüber jeder Form mechanistischen Denkens in einer Welt, die nicht nur komplex, sondern stochastisch ist. „Es mag schwer sein festzustellen, wo wir im Börsenzyklus stehen. Aber es ist nicht unmöglich, die Treiber hinter den größeren Bewegungen an der Börse anzugeben“, schreibt er. Zu diesen Treibern zählt er klassische Stimmungsindikatoren wie FOMO („Fear of missing out“) oder TINA („There is no alternative“), die in Phasen der Euphorie Investoren zu blinden Käufen verleiten – genau dann, wenn Vorsicht angebracht wäre. Umgekehrt signalisiert tiefes Misstrauen und allgemeine Krisenrhetorik womöglich attraktive Einstiegsgelegenheiten.

Gleichzeitig macht Wallwitz deutlich, dass Kondratjew-Zyklen nur eine grobe Orientierung bieten können. Denn was in den langen Wellen nach Plan aussieht, ist im Tagesgeschäft der Börse oft nur ein Rauschen, das kaum zu deuten ist. „Nothing ever happens“ – so bringt er die gegenwärtige Marktlage auf den Punkt. Der dramatische Zinsanstieg seit 2022, geopolitische Spannungen, Inflation, Staatsschulden – nichts davon hat den Aktienmarkt bislang ernsthaft ins Wanken gebracht. Alles scheint eingepreist, alles scheint verkraftbar. Selbst der Aufstieg Donald Trumps oder die geopolitischen Risiken in China und der Ukraine lassen die Märkte bislang weitgehend kalt.

Vor diesem Hintergrund erscheint der derzeit laufende „KI-Zyklus“ als Teil eines größeren Kondratjew-Zyklus: eine Neuauflage der Digitalisierung, wie sie seit den 1980er Jahren begonnen hat. Seit Mitte der 2010er Jahre nimmt die Künstliche Intelligenz Fahrt auf, und Wallwitz sieht darin den Motor des aktuellen Wachstumsversprechens – oder auch nur des Marktrauschens. Zwar gibt es Zweifel an der wirtschaftlichen Tragfähigkeit der enormen Investitionen, doch die Vision eines neuen Produktivitätswunders überstrahlt derzeit jede Skepsis.

Und dennoch bleibt das Dilemma bestehen: Die langfristigen Zyklen mögen faszinierend sein, aber sie sind für Anleger kaum handhabbar. Gerade die Kritik an Kondratjews Theorie bemängelt, dass seine Zyklen erst im Rückblick konstruiert werden und weder genaue Dauer noch Wendepunkte zuverlässig vorhersagbar sind. Der rückschauende Blick mag eine gewisse Ordnung suggerieren, doch die reale Welt der Märkte ist von Unsicherheit, Zufällen und politischer Willkür geprägt.

„Nothing ever happens. Until it does.“ Mit diesem lakonischen Schlusssatz bringt Wallwitz die Essenz seines Marktbilds auf den Punkt. Die Ruhe der Märkte ist trügerisch, denn sie birgt die Möglichkeit des plötzlichen Umschwungs. Solange dieser nicht eintritt, bleibt der Börsenalltag ein Tanz auf dem Vulkan, der mal in Optimismus, mal in Angst mündet – aber nie in Sicherheit.

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