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Wohin geht die Reise?

Von Dr. Oliver Everling | 31.Dezember 2015

„Die Grenzen des Wachstums“ sind seit den 1970er Jahren ein Begriff. Die im Auftrag des Club of Rome erstellte und von der VolkswagenStiftung finanzierte Studie „Die Grenzen des Wachstums“ wurden im Rahmen des St. Gallen Symposiums 1972 der Öffentlichkeit vorgestellt und bewegt seither international eine Kontroverse um Wachstumsziele und Ressourcenverschwendung.

Inzwischen liegt eine globale Prognose bis 2052 vor: Jorgen Randers veröffentlichte 2012 im oekom Verlag einen neuen Bericht an den Club of Rome, genau 40 Jahre, nachdem „Die Grenzen des Wachstums“ erschienen, die so nachhaltig die Diskussion insbesondere um wirtschaftspolitische Zielsetzungen beeinflussten.

Mit seinem neuesten Buch greift Dr. Ulf Gerlach geschickt die Fragen auf, die zwar damals schon aufgeworfen, aber bis heute nicht befriedigend beantwortet wurden und daher wohl nur ansatzweise zu nachhaltigen Verhaltensänderungen führten: „Wohin geht die Reise?: Gesellschaftskritische Streifzüge im grenznahen Bereich“ (Edition Octopus).

Obwohl der Untertitel des Buches eher ein Sachbuch erwarten lässt, trifft der Leser auf eine Erzählung in Ich-Form eines fiktiven Lehrers aus Berlin. Die Wahl der Handelnden sowie der Ort des Geschehens sind kein Zufall, ist doch Berlin weltberühmt für seine einstige Grenze bzw. Mauer, die Touristen aus aller Welt in großer Zahl jeden Tag anzieht.

Der 1987 am Brandenburger Tor ausgerufene Appell von Ronald Reagon an „Mr. Gorbatchev, tear down this wall!“, wurde 1989 Realität. Damit fiel nicht nur eine Mauer zwischen Ost- und Westberlinern, eine Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern auch die Grenze für ein Wirtschaftssystem, das sich zentralverwaltungswirtschaftlichen Diktaturen als überlegen erwies. Die Freiheit brachte aber in vielen Ländern auch die Übernahme des „American Way of Life“, der einem stereotypen Muster von Wohlstandszielen folgt. „Derzeit ist die deutsche Bewunderung für die USA als Musterland der Demokratie und Verfechterin von Freiheit und Toleranz, der Mythos, beschädigt“, schreibt Gerlach.

Mit der Frage „Wohin geht die Reise?“ stellt Gerlach den Leser auf die Probe. Wer auf diese Frage automatisch eine Antwort mit Reisezielen in fernen Ländern erwartet, denkt möglicherweise eher grenzenlos, denn die Überwindung von Grenzen ist bei Fernreisen eine Selbstverständlichkeit, wie auch der damit verbundene Ressourceneinsatz. Gerlach liebt die Wortspiele, Konnotationen und Assoziationen.

Das Buch von Gerlach ist nicht normal: Auf 321 Seiten gelingt es dem Autor, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern auch zugleich ein Sachbuch zu schreiben. Originell ist auch seine Idee, den Leser auf den letzten Seiten des Buches mit einem „alternativen Inhaltsverzeichnis“ unter der Überschrift „Wenn die Urlaubstage verschmelzen und die wahren Inhalte der Erlebnisse deutlich werden“ zu überraschen. Während das Inhaltsverzeichnis zu Beginn des Buches eine bloße Urlaubserzählung vorspiegelt, geordnet nach Urlaubstagen, kommt am Schluss heraus, dass sich Gerlach einer stringenten Logik bediente.

Es geht um die gespaltene Gesellschaft, die persönliche Leistungsfähigkeit, die Grenzen des materiellen Mehrwerts für das Individuum, die Grenzen des geordneten menschlichen Miteinanders, den Umgang mit Gesetzen, Konventionen und biologischen Grenzen, gesellschaftliche, politische, ökonomische, ökologische und soziale Entwicklungen, eine Aufforderung zum Umdenken und um den Aufbruch zu neuen Ufern.

Das Buch beeindruckt außerdem mit eingestreuten „Urlaubsfotos“, für die Gerlach die anspruchsvolle Fotografin Melanie John gewinnen konnte. Schade nur, dass die Aufnahmen auf das Format des Buches beschränkt bleiben. Der Leser würde sicher oft gerne in die erstklassigen Bilder „hineinzoomen“, um die Farbfotos in ihrer vollen Ausdruckskraft zu genießen.

Gerlach ist schon aus seinen früheren Buchveröffentlichungen für seine Gründlichkeit und Sorgfalt bekannt, mit der er jedes Detail seiner Darstellungen recherchiert und reflektiert. „Nicht normal“ ist daher auch sein umfassendes Literaturverzeichnis von 25 Seiten, die jede Erwähnung genau belegen, obwohl natürlich die Geschichte insgesamt fiktiv ist.

Dem Autor kommt seine Beobachtungsgabe zugute, wenn er die Lebensgewohnheiten von den vielen verschiedenen Berlinern beschreibt. Der Leser erfährt, wie immer wieder Grenzen überschritten und Menschen zugleich auch immer wieder Grenzen aufgezeigt werden oder an Grenzen stoßen.

Gerlach drängt den Leser nicht in eine bestimmte politische oder gar religiöse Richtung. Er befasst sich mit den Phänomenen unserer Zeit frei von jeder obskuren Esoterik. „Ständiges Wachstum ist irgendwie uncool geworden, da scheinen sich Kirchen, Gewerkschaften, Umweltschützer und sonstige Organisationen einig zu sein.“

„Unsere Überflussgesellschaft kreiert nicht nur Probleme, nein, sie bietet uns zugleich Lösungen an“, warnt Gerlach vor vorschnellen Schlüssen, mit der Abstellung von Wachstumszielen bereits Glück für alle zu bewirken.

Themen: Cleantechrating, Nachhaltigkeitsrating, Rezensionen | Kein Kommentar »

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