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KI ist wie das Internet vor vielen Jahren?
Von Dr. Oliver Everling | 6.Juni 2025
„Anleger in Technologietitel müssen starke Nerven zeigen“, warnt Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE, in seinem aktuellen CIO View. Am Beispiel des amerikanischen Halbleiterproduzenten Nvidia zeigt er, wie eng Erfolg und Unsicherheit im Technologiesektor beieinanderliegen. „Der Konzern hatte mitgeteilt, dass er im ersten Quartal 2025 trotz des Gegenwinds der amerikanischen Handelspolitik den Umsatz um 69 Prozent auf 44,1 Milliarden Dollar und den Gewinn um 25 Prozent auf fast 18,8 Milliarden Dollar gesteigert hat.“ Die Börse habe diese Zahlen positiv aufgenommen, obwohl noch vor wenigen Monaten Befürchtungen kursierten, dass etwa der chinesische Chatbot-Entwickler DeepSeek das Geschäftsmodell von Nvidia gefährden könnte.
Für Viebig ist klar: „Das Beispiel von Nvidia zeigt, wie eng Erfolg und Misserfolg im Technologiesektor beieinander liegen, wie volatil die Aktienkurse im Technologiebereich verlaufen können.“ Daraus ergibt sich ein klarer Ratschlag für Anleger: „Investments in Einzeltitel bergen hohe Risiken und ein diversifizierter Ansatz mit einem breiten Portfolio ist einer Anlage in einzelne Aktien überlegen.“
Mit Blick auf die Künstliche Intelligenz erkennt Viebig weiterhin großes Potenzial. „Bisher konzentrierten sich die Anleger beim Thema KI vor allem auf Infrastruktur, Halbleiter und andere Hardware. Dies wird unserer Einschätzung nach auch künftig ein Schlüsselthema sein.“ Doch der Fokus verschiebe sich zunehmend: „Neben immer leistungsfähigeren und schnelleren Halbleitern werden auch Quantencomputer sowie die weitere Vernetzung von Computern und Robotern in Zukunft eine größere Rolle spielen – auch an den Finanzmärkten.“
Die Dynamik in der Branche sei enorm. „Nach dem Erfolg von OpenAI mit dem Chatbot ChatGPT sind neben den Glorreichen Sieben viele weitere Technologieunternehmen in diesen Bereich eingestiegen“, so Viebig. Dazu zählen laut ihm unter anderem Mistral AI aus Frankreich, Anthropic oder Cohere. Der Hype sei nicht unbegründet, aber selektives Investieren sei entscheidend. „KI ist heute wie das Internet vor vielen Jahren“, zitiert Viebig die Strategieberatung McKinsey. Doch zugleich warnt er: „Das Risiko liegt für Unternehmensführer nicht darin, dass sie zu groß denken, sondern zu klein.“ Die Geschichte habe mehrfach gezeigt, wie leicht Unternehmen wie Nokia, Blackberry oder Siemens den Anschluss verlieren können. „Die Gefahr, strategische Fehler zu machen, ist bei KI nicht weniger groß als zu Beginn des Computerzeitalters.“
Auch die technologische Entwicklung schreitet rasant voran. „Stehen derzeit Chatbots im Mittelpunkt, so werden in Zukunft vermutlich KI-Agents wichtiger, die schrittweise den Weg zu einer Allgemeinen Künstlichen Intelligenz (AGI) ebnen.“ Diese KI-Agenten gehen laut Viebig einen Schritt weiter als heutige Systeme: „KI-Agenten werden Handlungen in mehreren Schritten planen und Entscheidungen für uns übernehmen.“
Neue Geschäftsmodelle stünden damit in den Startlöchern. „Selbstfahrende Autos, Smart Homes und autonom fliegende Drohnen zur Paketauslieferung werden immer wieder als mögliche KI-Anwendungen diskutiert. Das ist zum Teil Zukunftsmusik.“ Konkreter werde es aber in anderen Bereichen: „Der Einsatz von KI in der Rüstungsindustrie, bei Robotern in der Industrie und in der innovativen Medizin, beispielsweise mit Robotern, die bei Operationen unterstützen.“ Auch die Patientenüberwachung werde durch KI revolutioniert. „Werden festgesetzte Grenzwerte bei Blutdruck, Sauerstoffsättigung des Blutes oder Herzfrequenz überschritten oder unterschritten, schlagen die Systeme automatisch Alarm. Dadurch kann wertvolle Zeit gewonnen werden.“
Der Einfluss von KI auf die Weltwirtschaft sei laut Viebig kaum zu überschätzen. „Laut McKinsey hat KI das Potenzial, einen ebenso großen Wandel herbeizuführen wie die Dampfmaschine die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert.“ Der Markt sei riesig: „Die Strategieberatung schätzt das langfristige Marktpotenzial von KI auf USD 4,4 Billionen.“ Die Bedeutung von Hightech- und Halbleiterunternehmen sei mittlerweile so groß, „dass kein Anleger diese Sektoren ignorieren sollte.“
Allerdings gibt es auch Schattenseiten. Die energietechnischen Auswirkungen seien erheblich. „Nach einigen Schätzungen wird mit KI-Anwendungen dieses Jahr erstmals mehr Energie verbraucht als in Japan.“ Zudem nehme die geoökonomische Unsicherheit zu. „Auch amerikanische Tech-Konzerne entgehen nicht Trumps Handelspolitik.“ Nvidia etwa habe durch Exportbeschränkungen beim H20-Prozessor im ersten Quartal 2025 eine Umsatzeinbuße von USD 4,5 Milliarden erlitten. Auch Meta und Apple könnten durch den verschärften Handelskonflikt mit China erhebliche Einbußen hinnehmen müssen. „Diese Einschätzungen unterliegen angesichts von Trumps erratischen Kehrtwenden einer großen Unsicherheit, doch sie zeigen, wie viel für die amerikanische Tech-Branche auf dem Spiel steht.“
Trotzdem bleibt Viebig optimistisch: „Anleger sollten diese handelspolitischen Aspekte nicht ignorieren. Gleichwohl könnten die politischen Verwerfungen, die derzeit auch an den Aktienmärkten Nervosität auslösen, für langfristig orientierte Anleger mit entsprechender Risikobereitschaft Einstiegsmöglichkeiten zu niedrigeren Bewertungen bringen.“ Seine zentrale Einschätzung: „Wir halten Künstliche Intelligenz weiterhin für eines der spannendsten Anlagethemen an den globalen Aktienmärkten.“ Und abschließend betont Viebig: „Für Anleger bedeutet dies, dass KI sich nicht mehr auf Halbleiter und den Tech-Bereich im engeren Sinne beschränkt, sondern auch immer mehr andere Branchen weit darüber hinaus betrifft. Auch dieser Aspekt zeigt, wie wichtig ein langfristiger und planmäßiger Aufbau eines Aktienportfolios ist, das diese Trends spiegelt und gleichzeitig das Risiko von Einzelinvestments durch Diversifikation mindern könnte.“
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