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Shenzhen – Die Weltwirtschaft von morgen

Von Dr. Oliver Everling | 17.Dezember 2020

In alten deutschen Reiseführern kann man es nachlesen: Shenzhen war einmal ein Fischerdorf. Im fünfbändigen „Der Neue Brockhaus“ von 1975 findet Shenzhen keine Erwähnung. Noch 1993 berichtete die renommierte Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden unter dem kurzen Stichwort „Shenzhen“ von nur 280.000 Einwohnern. Schon damals mag es aber Leser irritiert haben, dass im Brockhaus die Existenz eines 52stöckigen Hochhauses Erwähnung findet. 2017 zählte Shenzhen schon 12,53 Mio. Einwohner. Wer Antworten auf die Frage sucht, was da passierte, findet sie im Buch von Wolfgang Hirn: Shenzhen – Die Weltwirtschaft von morgen (2020 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main).

Wer Wolfgang Hirn bzw. seinen beruflichen Hintergrund kennt, macht sich um den fachlichen Anspruch des Buches keine Sorge – es liest sich evidenzbasiert, detailreich und außerdem spannend. Wolfgang Hirn studierte Volkswirtschaftslehre und Politische Wissenschaften in Tübingen. Nach Stationen als Wirtschaftsredakteur arbeitete er als Reporter beim manager magazin. Seit 1986 reist er regelmäßig nach China, veröffentlichte den Bestseller „Herausforderung China“ (2005) und zuletzt bei Campus „Chinas Bosse“ (2018). Er lebt als Autor in Berlin und schreibt über Themen mit Bezug zu China.

Das Buch zeichnet nicht bloß die Historie einer Stadt nach, die schon seit 2009 Pilotstadt der Zentralregierung zur Förderung der Elektromobilität ist und heute mehr als 200.000 Ladestationen bereithält. Hirn vermittelt mit seiner Aufarbeitung des märchenhaften Aufstiegs Shenzhens zu einer globalen Modellstadt dem Leser das Verständnis für die folgenden Kapitel, in denen es um „die Fabrik der Welt“ geht, die Stadt im Gründerrausch und um Beispiele der Konzerne Tencent und Ping An, wie sie ihre Macht mit Alogrithmen entfalten.

Hirn stellt Shenzhen als „Smart City“ vor, geladen mit Elektromobilität, die die Unternehmen verbindet, Unternehmen, die – statt Universitäten – die Forschungslandschaft prägen und in denen Nobelpreisträger ihre Forschungslabore haben wollen. Wer jedoch glaubt, bei „Shenzhen Valley“ ginge es nur um Geld, dem öffnet Wolfgang Hirn die Augen für die Kunst am Bau und dafür, die Architekten, Künstler und Designer eine Stadt kreieren.

Schließlich zeigt Hirn auch das Verhältnis der beiden „schwierigen Nachbarn“ auf: Wie Shenzhen vom Niedergang Hongkongs profitiert. Wer sich den beispiellosen Aufstieg Shenzhens vor Augen führt, wird überdenken, ob es bei der „Demokratiebewegung Hongkong“ wirklich um Demokratie, oder vielleicht auch um ein bei vielen Hongkongern gestörtes Selbstbewusstsein geht: „Die ehemals britische Kronkolonie strotzte vor Selbstbewusstsein“, schreibt Hirn: Hongkong wirke heute museal, sieht plötzlich alt aus.

Wer erinnert sich noch an die „Hidden Champions“ in Deutschland, an deutschen Erfindungsreichtum? „Im Jahr 2005 hatten folgende fünf Unternehmen weltweit“, schreibt Wolfgang Hirn, „die meisten Patentanmeldungen eingereicht: Philips, Panasonic, Siemens, Nokia und Bosch. Also vier Europäer – darunter sogar zwei Deutsche – und ein Japaner.“ Wer die heutigen Verhältnisse kennt, kommen diese Worte vor wie aus einem alten Geschichtsbuch mit Erzählungen aus einer vergessenen Zeit. „2018 war keiner von diesen Konzernen mehr unter den Top Five vertreten. Die Reihenfolge lautet jetzt: Huawei, Mitsubishi Electric, Intel, Qualcomm und ZTE. Kein Europäer war mehr dabei, dafür gleich zwei Unternehmen aus Shenzhen.“

Statt das „Heute“ in Kalifornien, im Silicon Valley, zu bestaunen, sollte sich der Blick von Politikern, Wirtschaftsführern und Journalisten, die unablässig auf extrovertierte Milliardäre der sogenannten PayPal-Mafia (Elon Musk usw.) schauen, auf das „Morgen“ richten, auf die noch unbekannten Stars nach Osten wenden. und  „Die Damen und Herren sollten mal die Richtung wechseln“, so der Aufruf von Wolfgang Hirn, der einerseits das Glück hatte, Chinas Startbedingungen in den 1980er Jahren gesehen zu haben, und andererseits die Weitsicht hatte, immer wieder nach China zurückzukehren, um Zeuge eines beispiellosen Aufstiegs zu werden.

Dieser Aufstieg Chinas konkretisiert sich insbesondere am Beispiel der Modellstadt, des Reformlabors „Shenzhen“, der Stadt, die Hongkong näher liegt als Frankfurt zu Wiesbaden, näher als Köln zu Düsseldorf. „Shenzhen profitiert immer noch sehr davon, dass in seinem Umland die größte Fabrikdichte der Welt herrscht. Wie diese entstanden ist, konnte ich mit eigenen Augen verfolgen, als ich Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal nach Shenzhen reiste“, schreibt Wolfgang Hirn.

Wolfgang Hirn analysiert, auf welchen grundlegenden Reformen der Erfolg beruhte: In der Landwirtschaft, im privaten Unternehmertum, im freien Arbeitsmarkt und der Abschaffung staatlicher Preise. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Westen, insbesondere in Europa, wird dem Leser klar, in welche Tragödie Europa und speziell auch Deutschland steuert: Mehr Kollektivierung der Landwirtschaft als Markt, private Unternehmen am Tropf öffentlicher Aufträge und Subventionen, im Detail staatliche geregelte Arbeitsplätze und Tarife, geld- und fiskalpolitisch manipulierte Preise usw., die dort hinführen, wo China herkam: Ressourcenverschwendung, Warteschlangen, Ineffizienz, bis hin zu Mangelversorgung (Wohnung, Bildung, Pflege, Gesundheit usw.).

Nachdem Xi Jinping im November 2021 gewählt wurde, führte ihn seine erste, mit Spannung erwartete Reise nach Shenzhen, um dort u.a. Tencent und die Qinhai-Entwicklungszone zu besuchen – „ohne großen Pomp“, wie Wolfgang Hirn berichtet und zitiert den Präsidenten: „Chinas Reform- und Öffnungspolitik wird nie aufhören. In den nächsten 40 Jahren wird China die Welt mit weiteren Erfolgen beeindrucken“, verkündete Xi Jinping.

Wolfgang Hirn zeigt die Schattenseiten auf, die mit der Öffnung einherging. Im Schatten von Shenzhen entstand die Millionenstadt Dongguan „als das Mekka der globalen Schuhindustrie“. Dongguan war das Schmuddelkind im Perlflussdelta. Eine Stadt mit einst schlechtem Ruf. „Es war die Hauptstadt der Prostitution“, so ein Zitat von Leslie C. Chang aus ihrem Buch „Factory Girls“. Dem China-Experten Wolfgang Hirn gelingt es, die verschiedenen Entwicklungsphasen und differenziert aufzuzeigen, wie der Aufstieg Chinas und speziell von Shenzhen nicht geradelinig nur von frohen Botschaften gekennzeichnet war, sondern teils die Beseitigung von Missständen in einem Bereich mit Missständen in einem anderen Bereich erkauft wurde. Leider wird in den deutschen Staatsmedien oft nicht differenziert, welche Missstände in China überwunden, welche hinzugekommen sind und welche hinzukamen, aber auch schon wieder überwunden wurden. Wer das Buch von Wolfgang Hirn aufmerksam liest, wird sich ein eigene, fundiertere Meinung bilden können.

Dem Autor gelingt es, immer wieder auf zwei Seiten derselben Sache zu sprechen zu kommen, so zum Beispiel im Fall von Drohnen und dem führenden Hersteller in Shenzhen: „DJI schätzt, dass ein Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche Chinas mit Drohnen bearbeitet werden könnte. In der vom ehemaligen Microsoft-Manager Peng Bin gegründeten XAircraft aus dem nahen Guangzhou hat DJI in diesem Segment jedoch einen ernstzunehmenden Wettbewerber.“ Wolfgang Hirn fügt aber gleich noch eine andere, für deutsche Leser noch unvorstellbare Anwendung von Drohnen hinzu: „Und noch ein wichtiges Einsatzgebiet für Drohnen wurde in Shenzhen entdeckt. Die Verkehrspolizei dort setzt seit 2016 zunehmend Drohnen ein, um Verkehrssünder aller Art – vom Schnellfahrer bis zum Falschparker – von oben herab aufzuspüren. Offenbar mit Erfolg: Alle drei Minuten würden sie mit ihren Drohnen ein regelwidriges Verhalten registrieren, meldet die Polizei.“

„Ein neues Kürzel werden wir uns merken müssen. Drei Buchstaben, die in Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden: GBA“, schreibt Wolfgang Hirn und sieht ein neues Machtzentrum der Welt voraus: „Greater Bay Area.“ Es geht um den Zusammenschluss der beiden Sonderverwaltungszonen und ehemaligen Kolonien Hongkong und Macau mit neun Städten in der Provinz Guangdong.

Wer sich mit der Sicht von Wolfgang Hirn nicht befasst, wird künftig Ratings für Länder, Branchen, Städte und Unternehmen kaum noch verstehen. „Die Schwellenländer, also auch das restliche China, sehen, wie man Wachstum durch eine geschickte Industriepolitik beschleunigen kann. Und entwickelte und satte Industriestaaten wie Deutschland sehen, wie man Hightechindustrien fördert, wie man in einer Stadt einen entrepreneurial spirit kreiert, und wie man konsequente Verkehrspolitik betreibt.“

Themen: Branchenrating, Länderrating, Rezensionen, Technologierating, Unternehmensrating | Kein Kommentar »

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