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Wenn Vergangenheit gegenwärtig wird: Siebenbürgens Stimme im Wiener Reichsrat

Von Dr. Oliver Everling | 6.Dezember 2025

Die politische Geschichte Europas im 19. Jahrhundert ist geprägt von nationalen Aufbrüchen, Umbrüchen und intensiven Aushandlungsprozessen. Weniger im allgemeinen Bewusstsein verankert ist jedoch die Rolle, die das Wiener Reichsparlament für jene Regionen spielte, die fernab der Metropole lagen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist Siebenbürgen. Zwischen 1863 und 1865 entsandte diese historisch komplexe Region eine Gruppe rumänischer und sächsischer Abgeordneter sowie Herrenhausmitglieder in den österreichischen Reichsrat. Ihre Tätigkeit fiel in eine Phase, in der die rumänische Bevölkerungsmehrheit erstmals spürbare Möglichkeiten erhielt, ihre politischen Anliegen auf imperialer Bühne sichtbar zu machen und ihre lange geforderte Gleichstellung mit Ungarn, Szeklern und Sachsen zu artikulieren.

Die Reden, die diese siebenbürgischen Parlamentarier in Wien hielten, zeugen von erstaunlicher Modernität. Sie verhandelten Fragen, die wir auch heute in europäischen Institutionen wiederfinden: gerechte Steuerstrukturen, Infrastrukturprojekte, Bildungs- und Sprachenpolitik, Rohstoffverwaltung sowie die Notwendigkeit, regionale Interessen gegenüber einem machtvollen Zentrum selbstbewusst zu vertreten. Immer wieder stand die Forderung nach Gleichberechtigung im Mittelpunkt – eine Forderung, die nicht nur nationale Selbstbehauptung bedeutete, sondern auch ein frühes Bewusstsein für eine faire politische Teilhabe in einem vielsprachigen und vielkulturellen Gemeinwesen.

Diese Episode der Geschichte besitzt gerade heute eine besondere Aktualität. Sie zeigt, wie schwierig, aber auch wie fruchtbar der Versuch sein kann, unterschiedliche Regionen und Identitäten in einem gemeinsamen politischen Raum miteinander zu verbinden. Die transsilvanischen Abgeordneten standen vor denselben Herausforderungen, die auch das heutige Europa prägen: dem Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, dem Ausgleich historisch gewachsener Ungleichheiten und dem Bemühen, politische Beteiligung trotz sprachlicher und kultureller Vielfalt zu sichern. In diesem Sinne erscheinen sie rückblickend als Pioniere einer europäischen Verständigung, die damals noch keinen Namen hatte.

Ein vertiefter Blick in diese weitgehend vergessene, aber hochinteressante Phase wird durch das Buch „Transsilvanien in Wien. Die Parlamentarier aus Siebenbürgen im österreichischen Reichsrat 1863–1865“ ermöglicht, herausgegeben von Ștefan-Sorin Mureșan und Günther Schefbeck. Der Band, erschienen bei Springer VS im Jahr 2025, enthält grundlegende Studien zur Verfassungsentwicklung, zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und zum Landtag von 1863–1864 sowie ausführliche Biographien und erstmals vollständig edierte Reden der siebenbürgischen Abgeordneten und Herrenhausmitglieder. Es ist ein Werk, das die damaligen politischen Debatten nicht nur dokumentiert, sondern ihnen ihre historische Tiefe und Bedeutung zurückgibt und das Verhältnis zwischen Siebenbürgen und Wien in ein neues Licht rückt.

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