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Die Biotechnologie-Industrie

Von Dr. Oliver Everling | 13.Januar 2021

Das Buch von Dr. Julia Schüler „Die Biotechnologie-Industrie: Ein Einführungs-, Übersichts- und Nachschlagewerk“ im Springer-Verlag gibt angehenden Ratinganalysten einen schnellen Einstieg in das Verständnis einer Branche, die Investoren und Manager vor große Herausforderungen stellt. Erfolgreiches Investieren stetzt in dieser Industrie nicht nur ein breites, sondern auch ein tiefes Wissen voraus, ohne das biotechnologische Entwicklungen nicht beurteilt werden kann.

Von 2001 bis 2009 verfasste Dr. Julia Schüler bei Ernst & Young acht Deutsche Biotechnologie-Reports, die – wie ihre Nachfolgeberichte – Grundlage von Teilen dieses Buches sind. Es stellt eine Art „Mutter aller Biotech-Reports“ dar, indem es Tausende Seiten Biotechnologie-Reports zusammenfasst. Dr. Julia Schüler studierte Biologie und promovierte in Betriebswirtschaft bereits über ökonomische Aspekte der Biotechnologie. Seit mehr als 20 Jahren analysiert sie die Entwicklung der Biotechnologie-Industrie.

Der bunte Begriff der „Biotechnologie“ bedarf der Erläuterung, was darunter zu verstehen ist. Daher nimmt Dr. Julia Schüler Abgrenzungen zu den ähnlichen Begriffen Biotechnik und Bionik vor, leg gängige Definitionen zur Biotechnologie dar und gibt Erklärungen zu den Begriffen Genetik, Gentechnologie und Molekularbiologie als Teilgebiete der Biotechnologie und Biologie. Wer die Meilensteinen der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung kennenlernen will, wird in diesem Buch fündig.

Aus den Rahmenbedingungen, die während der Entstehung der Biotech-Industrie insbesondere in den USA vorherrschten, lässt sich verstehen, wie interdisziplinär geforscht wurde und einige der wissenschaftlichen Grundlagen der Biotechnologie entstanden. Das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umfeld trug zum Aufkommen einer von kleinen und mittleren Unternehmen geprägten Biotech-Industrie bei.

„Neue Gesetze ab Mitte der 1970er-Jahre, wie der Bayh-Dole Act, der Stevenson-Wydler Act oder der Economic Recovery Tax Act, schufen Rahmenbedingungen, die die wirtschaftliche Nutzung biowissenschaftlicher Forschungsergebnisse sehr unterstützten“, schreibt Dr. Julia Schüler. „Auch das Risikokapital, ein Lebenselixier für Firmengründungen, wurde sozusagen in den USA erfunden und Investoren interessierten sich früh und intensiv für die Biotechnologie.“

Ein investitionsfreundlicher Kapitalmarkt war der Schlüssel dafür, die wichtigen Entwicklungen der Biotechnologie zu ermöglichen und sie ausreichend zu finanzieren, um hochrisikoreiche, teure und langwierige Arzneimittel-Entwicklungen an den Markt zu bringen. „Mittlerweile verschwimmen die Grenzen zwischen Biotech- und Pharma-Firmen zu einer neuen biopharmazeutischen Industrie. Auch andere Industrien, wie die Chemische Industrie,“ zeigt Dr. Julia Schüler auf, „werden in Zukunft zunehmend ‚biologisiert‘ werden“. Dazu gibt die praxiserfahrene Autorin eine Reihe von Beispielen.

Als Querschnittstechnologie wirkt die Biotechnologie beziehungsweise ihre wirtschaftliche Anwendung breit in verschiedene Einsatzfelder. Diese reichen von der pharmazeutischen über die chemische Industrie, den Agrar- und Lebensmittelsektor bis hinein in den Umweltschutz. „Dadurch können wiederum viele andere produzierende Gewerbe indirekt aus der Biotechnologie Nutzen ziehen,“ schreibt Dr. Julia Schüler, „wie zum Beispiel die Automobilindustrie. Den Anwendungsbereichen wurden nach und nach ‚passende‘ Farben zugeordnet“, erklärt Dr. Julia Schüler die farbenfrohe Vielfalt der Branche. Die Farben, die man sich merken muss, sind rot, weiß, grau und grün.

Die „Rote Biotechnologie“ für die Anwendungen im Bereich der Medizin (hauptsächlich Pharmazeutika und Diagnostika), die „Weiße Biotechnologie“ für den Einsatz in der industriellen, vor allem chemischen Produktion, die „Graue Biotechnologie“ für den Umweltschutz sowie die „Grüne Biotechnologie“ für Produkte oder Problemlösungen im Agrarsektor.

Neben Beispielen zu Anwendungen und Marktdaten der Roten Biotechnologie bietet Dr. Julia Schüler einen Exkurs zur Medikamenten-Entwicklung. Es wird vor allem auf die Faktoren Kosten, Dauer sowie Risiko eingegangen. Zudem behandelt sie ausführlich aktuelle Themen wie Biosimilars, Immun- und Gentherapie oder die personalisierte Medizin ausführlich. Die Ausführungen zur Weißen Biotechnologie umfassen unter anderem Erläuterungen zu Bioplastik und Biosprit. Zu Letzteren kann sie aufzeigen, dass die Biotechnologie Lösungen bereithält, die eine „Tank versus Teller“-Diskussion im Keim ersticken kann. „Auch in der Grünen Biotechnologie“, unterstreicht Dr. Juila Schüler, „ermöglicht der technische Fortschritt neuartige Ansätze, die die bisherigen Verfahren der Pflanzenzüchtung erweitern.“

Eine der Stärken des Buches besteht darin, dem Leser ein Verständnis der deutschen, von kleinen und mittleren Unternehmen geprägten Biotech-Industrie zu vermitteln. Dr. Julia Schüler beleuchtet insbesondere die Situation der Forschung und Lehre vor den 1970er-Jahren sowie politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in den 1970er- bis 1990er-Jahren: „Bis in die 1930er-Jahre galt Deutschland als Vorreiter in der biochemischen Forschung. In den späten 1930er- bis 1950er-Jahren setzten sich dann die USA bei der biochemischen und molekularbiologischen Forschung an die Spitze. Neben Zwangsemigration und Vertreibung von Wissenschaftlern durch das Nazi-Regime hatte auch der Zweite Weltkrieg eine internationale Isolation und Selbstisolation deutscher Forscher zur Folge. Hinzu kam, dass Universitätsstrukturen bzw. Institutsabgrenzungen interdisziplinäre Zusammenarbeit erschwerten. Die Lage änderte sich erst langsam in den 1960er- und 1970erJahren sowie verstärkt in den 1980er-Jahren mit der Gründung der Genzentren ab 1982 in Heidelberg, Köln und München sowie 1987 in Berlin.“

Gleichzeitig habe der Bund verschiedene Förderprogramme aufgesetzt, Kommissionen ins Leben gerufen und 1990 das Gentechnik-Gesetz verabschiedet. „Danach folgten 1995/1996 der BioRegio-Wettbewerb, der als Initialzündung für die deutsche Biotech-Branche gilt,“ rekapituliert Dr. Julia Schüler, „sowie weitere mit einem Wettbewerbsanreiz ausgestattete Förderinstrumente. Schließlich wurde auch versucht, Rahmenbedingungen für Unternehmensgründungen und -finanzierungen zu verbessern, was allerdings laut einem Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) bis heute noch nicht zufriedenstellend gelöst ist.“ Dr. Julia Schüler präsentiert einen zusammenfassenden Vergleich „biotech-relevanter“ Rahmenbedingungen in den USA und Deutschland sowie eine Übersicht zu frühen Bio- und Gentech-Aktivitäten der etablierten Industrie.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches standen Firmen, die in der Arzneimittel-Entwicklung tätig sind, vor dem Markteintritt und andere, wie Diagnostika-Hersteller oder Vertreter der Weißen Biotechnologie sowie Dienstleister, befinden sich bis heute schon am Markt. „Ihre Wahrnehmung als Teil einer innovativen Industrie könnte ausgeprägter sein“, mahnt Dr. Julia Schüler an. „Ein großes Manko für diejenigen Gesellschaften, die das große Risiko auf sich nehmen, neue Medikamente zu entwickeln, sind vorherrschende Rahmenbedingungen der Eigenkapital-Finanzierung. Ihre Wettbewerber in den USA finden dort ganz andere Verhältnisse vor, die ihnen in gewisser Weise Vorteile verschaffen.“

Zu den Vorteilen US-amerikanischer Unternehmen gehört unter anderem eine über ein Jahrhundert gewachsene Ratingbranche, die von wenigen, führenden Ratingagenturen wie Moody’s Investors Service, S&P Global Ratings oder Fitch Ratings beherrscht wird. Arzneimittelhersteller haben aus Sicht der Ratingagenturen im Allgemeinen ein unterdurchschnittliches Risikoprofil. Das Risikoprofil des Sektors kann bis zur Ratingkategorie „AA“ reichen, wobei der Marken-Teilsektor ein geringeres Risiko aufweist als der Teilsektor der Biotechnologie und Generika. Die Risikobeurteilung des Pharmasektors spiegelt seine langfristigen Wachstumschancen, seine relativ geringe wirtschaftliche Sensibilität, seine erhebliche staatliche Regulierung und sonstigen rechtlichen Überlegungen wider, die im Rating eine Rolle spielen.

Das in großer Fließarbeit entstandene Buch von Dr. Julia Schüler liefert ein Feuerwerk von Fakten und Einsichten in die Branche der Biotechnologie, das sich jeder anschauen will, der sich hier einen Überblick über die Geschichte und die Entwicklung bis zu den heute noch am Markt führenden Unternehmen verschaffen will. In der Dokumentation der Historie bleibt das Buch zeitlos und ein wichtiger Grundstein für jeden, der im Biotech-Sektor investieren will.

Themen: BIotechrating, Technologierating | Kein Kommentar »

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