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Neustaat

Von Dr. Oliver Everling | 16.Juli 2020

Die große Koalition führte Deutschland zu einem Punkt, der grundlegende Änderungen unausweichlich macht. Dies ist nicht etwa der Konsens einer AfD-Versammlung. Es sind vielmehr Thomas Heilmann und Nadine Schön, beide für die Christlich Demokratische Union Mitglieder des Deutschen Bundestages, die 64 Abgeordnete und Experten um sich versammelten, um 103 Vorschläge für einen Neustart vorzulegen. Dazu gibt es ein Buch im FinanzBuch Verlag mit dem Titel „Neustaat – Politik und Staat müssen sich ändern.“

Viele der Mitautoren sind Mitglieder der Projektgruppe „Innovation“ der CDU/CSU Fraktion im Bundestag. Die Autoren sind sich einig in ihrem Appell, nach dem Politik und Verwaltung grundsätzlich reformiert werden müssen. Das Buch mündet in der Prognose eines neuen Reformjahrzehnts und schließt mit einem Plädoyer für einen „staatlichen Mutanfall“, so wörtlich.

15 Jahre der Ära Merkel haben Deutschland in eine Komplexitätsfalle gebracht: „Wir sitzen in der Komplexitätsfalle. Wir sind zu bürokratisch, zu starr und zu langsam“, heißt es im ersten Kapitel. „Wir versuchen einen Anfang. Einen Anfang für einen Neustaat.“ Dem Staat drohe angesichts der vielen Herausforderungen von EU, NATO, China, Digitalisierung bis hin zu Corona nun die Handlungsunfähigkeit.

Die Autoren sorgen sich, wie sehr die Bürger den Staat mit Ineffizienz und alltäglichem Versagen assoziieren, wie Kostenüberschreitungen, den über achtjährigen Verzug des Berliner Flughafens usw. Um Fruchtwasserschäden für Schwangere auszuschließen, musste beispielsweise der Innenraum des Kampfpanzers Puma für Millionenbeträge umgebaut werden, um auch noch einer Hochschwangeren das Panzerfahren zu ermöglichen.

Das Buch zeugt davon, wie seit vielen Jahren in der Politik einfach Wunschzettel in Gesetze gegossen wurden, ohne die daraus resultierende Komplexität für Verwaltung und Wirtschaft zu bedenken. Selbst Hochschullehrer verbringen 40% ihrer Arbeitszeit mit ihrer Selbstverwaltung und nicht mit ihren Aufgaben in Lehre und Forschung. Die Autoren sehen die Gesellschaft im Behördendschungel aber nicht nur bei den Beamten, sondern auch bei den Pflegeberufen, den Ärzten und vielen anderen. Ihr Fazit: „Wir brauchen eine grundlegende Reform des Staates.“

„Mehr Start statt mehr Staat“ ist die Devise. „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern“, wird Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1958) zitiert, denn die Autoren sehen sich durch fünf unterschätzte Megatrends herausgefordert: Digitalisierung, neue internationale Konkurrenz, Klimawandel, Pandemie-Vorsorge und Wandel der Gesellschaft.

Gäbe man dem verstorbenen Altbundeskanzler Helmut Kohl einige Textpassagen des Buches zu lesen, würde er die Autoren wahrscheinlich eher bei Bündnis 90/Die Grünen suchen, als in seiner eigenen Partei. „Corona- und Klimakrise haben zwei Dinge gemeinsam: Sie sind sehr abstrakt, bis sie ihre verheerenden Wirkungen entfalten, und diese lassen sich bei rechtzeitigen Maßnahmen und langfristigen Planungen stark minimieren.“

Die CDU-Abgeordneten lösen jedoch nicht nur einstige Alleinstellungsmerkmale der Grünen auf. So erklingen an vielen Stellen auch Worte, die zuerst nur bei den Freien Demokraten zu hören waren. Der Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion Ralph Brinkhaus titelt sein Vorwort zum Buch mit „Unbequeme Wahrheiten und ein staatlicher Mutanfall“. Für die FDP stand schon vor 5 Jahren ein ganzer Bundesparteitag unter dem Motto „German Mut, statt German Angst“.

Das Buch „Neustaat“ ist jedoch kein Plagiat aus den beliebtesten Ideen anderer Parteien. Das dritte Kapitel trägt den Titel „Neue Aufgaben für die Politik“. Hier begegnen dem Leser alte Bekannte aus der CDU-Programmatik. „Wie Deutschland dem Kollaps des Rentensystems entgeht und die Rente langfristig sichert“ – die Formulierung erinnert an die Wahlerfolge des im April 2020 verstorbenen CDU-Arbeitsministers Norbert Blüm, der schon 1986 das Thema für erfolgreich erledigt erklärte: „Die Rente ist sicher.“

„Deutschland kam spät.“ Mit diesem Satz leiten die Autoren das Kapitel ein und vergleichen den deutschen Stillstand der letzten Jahrzehnte mit der Situation im 19. Jahrhundert, als Deutschland erst nach anderen Nationen eine Gründerzeit erlebte. „Aber dafür kam Deutschland umso stärker“, machen die Autoren angesichts der Ähnlichkeit zur heutigen Situation Mut.

„Auch im 21. Jahrhundert kommt Deutschland spät“, heißt es unter der Überschrift „Lernen aus der Industriellen Revolution“. Mit anschaulichen Grafiken zeigen die Autoren, mit welchem Niedergang Deutschland – als einst mächtige Industrienation – in das 21. Jahrhundert geführt wurde. So zeigt sich nach 15 Jahren Kanzlerschaft der CDU der „Rückstand Europas“ allein schon an der Börsenkapitalisierung der größten Plattformen der Welt. Für ganz Europa zusammengerechnet ergibt sich nicht einmal die Bewertung einzelner Unternehmen in den USA oder Asien.

Gefordert wird eine Art Sozialisierung der Daten durch einen „Datencockpit“, dem „Digitalen Assistenten für Datensouveränität“ – „Daten für alle statt Daten für Kraken“. Scoring und Ratingsysteme spielen in diesem Zusammenhang für die Autoren keine Rolle. Der Wert von Daten und die Macht aus der Kontrolle über Daten resultiert aber meist erst aus der Verknüpfung von Daten. Solche Verknüpfungen sind Gegenstand von Ratingsystemen, die auf Vergleich und Klassifizierung abzielen. Schon der Bonitätsindex einer einfachen Kreditauskunft kann in seiner Entwicklung und Zusammensetzung nicht jedermann offengelegt und verständlich gemacht werden.

Neue Aufgaben für die Politik entdecken die Autoren auch in der Künstlichen Intelligenz („ohne KI gehen wir K.O.“), in der digitalen Leitkultur als wichtigster Aufgabe der Wirtschaftspolitik, in der historischen Chance der Blockchain-Technologie im Kampf um den Geldstandard, in der Bildung und in der Forderung nach flexibler sowie selbstbestimmter Arbeit, in der Verbesserung der Infrastruktur sowie in den Klimazielen.

Inspiriert von der Gründerzeit, in der die Rechtsformen der Kapitalgesellschaften zur Blüte kamen, schlagen die Autoren eine neue Rechtsform der „Zukunfts-GmbH“ vor, die – zur Freude von Rechtsanwälten? – neben die zahlreichen, schon heute im In- und Ausland verfügbaren Rechtsformen treten soll. Kernidee ist dabei die Digitalisierung der Geschäftsanteile. Der neue Anstrich soll jungen Existenzgründern offenbar vergessen machen, wie viele Hindernisse durch erforderliche Genehmigungen, auszufüllende Formulare, zu beantragende Mittel, zu beachtende Brandschutzvorschriften oder einklagbare Arbeitsplatzbedingungen schon in den ersten Jahren ihrer Geschäftstätigkeit auf sie warten, ganz zu schweigen vom Dickicht der Haftungstatbestände, die sich erst nach Jahren durch schlagende Risiken bemerkbar machen.

Die Abgeordneten und Experten des Buches sind bereit, aus dem deutschen Fehlstart ins 21. Jahrhundert zu lernen. So skizzieren sie im vierten Kapitel den „lernenden Staat“ – jede Überschrift enthält das Wort „neu“: neues Denken, neue Kompetenzen, neue Gesetze, neuer Service, neue Prozesse, neue Standards, neue Transparenz und – last not least – ein „ganz neu gedachtes Digitalministerium“.

Im Abschnitt „neues Denken“ geht es nicht darum, wie Deutschland auch mit weniger Staat auskommen könnte, sondern es sollen die Beamten von Behörden ermuntert werden, in der vertikalen Linienstruktur weniger Antworten von Vorgesetzten und Ministern zu erhoffen, sondern sich stärker nach außen zu wenden. Die Autoren fragen nach einer „neuen Fehlerkultur, die Innovationen fördert, Spielräume für Neues bietet und gleichzeitig die Grenzen des rechtlich möglichen nicht überschreitet“.

Dass es die Idee der Marktwirtschaft ist, durch die ökonomische Institution des Marktes eine solche Fehlerkultur qua System bereitzustellen, und es daher auf mehr Freiräume für Märkte ankommt, wird nicht erwähnt. Es bleibt daher bei Appellen an Beamte und ihre Vorgesetzten. Für die Verwaltungen soll es neue Kompetenzen geben. „zukünftig sollte eine digitale, standardisierte und anonyme Mitarbeiterbefragung eingeführt werden, die bundesweit und behördenübergreifend durchgeführt wird. Dabei sollten vor allem Aspekte der Unternehmenskultur abgefragt werden, um hier konkret einsetzen zu können – vom Urteil über Atmosphäre oder Arbeitsbelastung bis zur Einschätzung des Vorgesetzten.“

Die Autoren machen Hoffnung auf eine evidenzbasierte Entscheidungskultur bei Politikern, indem stärker mit statistischen Daten gearbeitet werden könnte und das Parlament „zur Auseinandersetzung mit der eigenen Zielerreichung gezwungen“ wird. Die 2019 gezogene „niederschmetternde Zwischenbilanz“ des E-Government-Gesetzes von 2013 (97 % Fehlanzeige) veranlasst die Autoren, einen Digital-TÜV für Gesetze zu fordern. Außerdem sollen Gesetze erst dann Inkrafttreten, wenn die digitale Lösung für alle Verpflichteten einsatzbereit ist – „Digital First“.

Das Buch zeigt einen Weg auf, wie es der CDU/CSU gelingen könnte, trotz der unbestrittenen Misserfolge ihrer bisherigen Arbeiten in Gesetzgebung und Regierung ihre Mandate zu behalten. Die Autoren leugnen nichts, sondern rufen zum „Neustaat“ auf. Indem den Bürgern eine Kompletterneuerung versprochen wird und sich für diese Aufgabe die CDU/CSU zur Wahl stellt, könnte sich für viele Bürger die Wahl einer anderen Partei erübrigen. Die Abgeordneten und anderen Autoren des Buches erfüllen so das Bedürfnis von Wählern nach Kontinuität und Sicherheit in der Verwaltung und in den politischen Strukturen.

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