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Adele Spitzeder

Von Dr. Oliver Everling | 13.Oktober 2017

Mindestens 30.000 Menschen verloren ihr Geld, als im November 1872 die „Spitzeder’sche Privatbank“ zusammenbrach. Julian Nebel macht mit seinem Buch „Adele Spitzeder – Der größte Bankenbetrug aller Zeiten“ die Geschichte dieser Insolvenz im FinanzBuch Verlag zum Gegenstand eines spannenden Sachbuches. Dass die Geschichte filmreif ist, erkannte beispielsweise auch der Österreichische Rundfunk ORF, der daraus einen Fernsehfilm machte.

Der Untertitel der Neuerscheinung – „Der größte Bankenbetrug aller Zeiten“ – darf nicht allzu wissenschaftlich hinterfragt werden, denn im Buch sucht man einen Vergleich mit anderen Betrugsgeschichten von Banken wie auch eine Diskussion der dafür anzulegenden Maßstäbe vergeblich. Immerhin werden im Nachwort des Buches Charles Ponzi aus den 1920er Jahren sowie Bernard L. Madoff genannt, letzterer betrieb bis zur Finanzkrise 2008 ein milliardenschweres Schneeballsystem.

„Einfallsreichtum, ihr kriminelles Gewerbe durch Manipulation der Medien sowie durch Spenden an die Kirche, an Kriegsversehrte, Studenten und Bedürftige und durch Mauscheleien mit der Polizei abzusichern. Alles in allem war Adele Spitzeder ein Vorbild, eine Blaupause und ein Musterbeispiel für heutige Betrüger“, analysiert Nebel zurecht den Fall dieser außergewöhnlichen Dame.

Dem Autor gelingt es, den Leser mitten in das vorletzte Jahrhundert zu führen und auch die damaligen Lebensverhältnisse anschaulich zu skizzieren. Insbesondere wirtschaftsgeschichtlich interessierte Leser kommen auf ihre Kosten, da sich für sie mit dem konkreten Fall der Adele Spitzeder eine gestochen scharfe Momentaufnahme der damaligen Zeit zeigt, in der das heutige, staatliche Zwangsgeldmonopol noch in den Kinderschuhen steckte: „Mit der Reichsgründung kamen die Währungseinigung und die Mark, die ab 1871 nach und nach in allen Teilen des Deutschen Kaiserreichs eingeführt wurde und spätestens 1876 den bayerischen Gulden ablösen sollte.“

Das Ende zuerst: Nebel führt dem Leser zu Beginn des Buches schon das Ende der Adele Spitzeder vor Augen, so dass sich der Spannungsbogen des Buches daraus ergibt zu verstehen, wie es soweit kommen konnte: „Eine künstliche Panik, empörte sich Adele Spitzeder, die armen Leute seien eine »um ihr Geld besorgt gemachte Menge«. Die Wortwahl ist nicht zufällig, in ihren Augen war es eine von ihren zahlreichen Feinden bewusst hervorgerufene Panik, die ihr Unternehmen stürzen sollte.“ Die Frage der Gerichtskommission nach den Verpflichtungen ihren Gläubigern gegenüber war wenig ergiebig, berichtet Nebel, und zitiert aus Adele Spitzeders Autobiografie: „Ich erwiderte, daß ich dieselben momentan nicht angeben könne, weil ich, wie schon oft gesagt, keine Handelsbücher führe.“

Adele Spitzeder begann ihre Karriere als Schauspielerin, die offenbar über ihren Verhältnissen lebte. „Ein Gastspiel am badischen Hoftheater in Karlsruhe war ein letztes Aufbäumen. Auch hier wurde ‚mir überall der Beifall des Publikums und eine höchst freundliche Beurteilung der Presse zuteil‘. Doch schon bald kehrte sie trotz anhaltendem Erfolg nach München zurück, und zwar bankrott. Die genauen Ursachen dieses ersten Bankrotts der Adele Spitzeder sind unklar. Dass die Schauspielerei ohne festes Engagement kein finanzielles Ruhekissen war, liegt nahe. Dass auch Adeles Lebenswandel mit ursächlich war, scheint gesichert“, berichtet Nebel.

Ein Leben auf Pump warf seine Schatten voraus: „Der Verleiher Isaak R. lieh mir 500 Gulden, gab mir ein schlechtes Ölgemälde dazu und gab mir hierfür auf 3 Monate einen Wechsel auf 800 Gulden«51. Das Geld war aber genauso schnell wieder weg, wie es da war. Abendessen, Miete, die Ablösung alter Kredite, wenn der Kreditgeber zu lästig wurde. Es verrann förmlich unter Adeles Fingern. Sie war nun auf Kreditvermittler angewiesen.“

Nebel schildert die Geburtsstunde des Geschäftsmodells von Adele Spitzeder, als sie einem jungen Paar in einem Gasthaus gegenüber saß, in dem sie sich eingemietet hatte: „Das Geld wechselte den Besitzer. Adele stand auf, sie käme gleich zurück. Sie ging nach oben, beschwingt, das Zimmer war also erst einmal bezahlt, sie musste nicht auf die Straße, auch die jüdischen Wucherer würde sie mit ein paar Anzahlungen erst einmal beruhigen können. Von den 100 Gulden nahm sie 20 wieder mit nach unten, zahlte sie als Zinsen für die ersten zwei Monate sofort aus, denn zu seinem Wort müsse man als Ehrenfrau natürlich stehen. Der Rest, also 110 Gulden, sei dann in drei Monaten abholbar.“ Diese Art der schnellen Geldvermehrung habe die Runde gemacht, gerade noch rechtzeitig, innerhalb ihrer Dreimonats-Galgenfrist.

Nebels Befunde zum Geschäftsmodell der Adele Spitzeder geben noch heute Hinweise darauf, wie Schneeballsysteme identifiziert werden können: „Große Investitionen waren eine zu große Gefahr. Jederzeit konnten ja die Leute auf die Idee kommen, oder von übelmeinenden auf die Idee gebracht werden, ihr Geld sei bei der Spitzeder nicht sicher. Jederzeit also konnte es sein, dass sie große Mengen schnell auszahlen musste. Ein Großteil des eingelegten Kapitals musste also tot liegenbleiben. Ein Gegenwert für die Schulden wuchs also nicht. Aber noch strömte das Geld nur so herein.“

Einfache Leute versammelten sich im Gasthaus der Adele Spitzeder. Nach kritischen Momenten kehrte die Mehrzahl der Besucher offenbar zurück: „Das Gasthaus leerte sich, aber in den Köpfen arbeitete es. Am Ende behielt die Gier, die alte Metze, die Oberhand. Und gleich wie sehr sie gezögert hatten, alle kamen wieder.“ Mundpropaganda war die beste Empfehlung: „Beim Mittagstisch, in Pausen, nach Schichtende, beim Bier, bei tausend täglichen Gelegenheiten erzählten die Auer Arbeiter ihren Kollegen aus dem Dachauer Land von der Bank der kleinen Leute, der Bank der Adele Spitzeder. Und Adeles Kundenkreis wuchs.“

Der Eigentümer der Münchner Neuesten Nachrichten wäre Adele Spitzeder schon zum Verhängnis geworden, denn ihm wurde der Spitzeder’schen Geldverleih genannt. Dieser nannte ihn mangels eines offiziellen Namens „Dachauer Bank“. Durch einen ersten Artikel in den Münchner Neuesten Nachrichten fand dieser Name dann Verbreitung.

Die weiteren Schilderungen Nibels erinnern an die Verbreitung heutiger angeblicher Kryptowährungen wie OneCoin: „Zu viel öffentliche Aufmerksamkeit war nicht gut. Mundpropaganda gehörte zum Geschäftsmodell, aber kritische Zeitungsberichterstattung und Besuche der Polizei nicht.“ Nebel stellt fest: „Doch so heftig, wie das Misstrauen über sie hereingebrochen war, so abrupt endete es. Die zuverlässigen Zahlungen hatten die Zweifel ausgeräumt.“

Die Kirche kam Betrügern auch im 19. Jahrhundert zur Hilfe: „Mit Georg Ratzinger, dem Großonkel des späteren Papstes Benedikt XVI, gründete Sigl 1892 den Bayerischen Bauernbund. Sigl kann auch als Urheber des Begriffs »Saupreiß« gelten, den er im Bayerischen Vaterland gern und oft gebrauchte. Zu Sigls Lieblingsgegnern gehörten die Münchner Neuesten Nachrichten, er nahm gerne jede Gelegenheit wahr, gegen diese zu feuern.“

Nebel illustriert die Rolle der damaligen Medien: „Allgemein waren katholisch-konservative Blätter gut auf Adele Spitzeder zu sprechen. Die Augsburger Postzeitung diffamiert ‚linksliberale Kritik als großartigen Schwindel der Berliner Juden‘. Die Debatte wurde ideologisch. Adele Spitzeder wurde so zur Speerspitze katholisch-konservativer Kreise gegen ein vermeintlich jüdisch-liberales Deutschland.“

Der Fokus lag auf schneller Geldvermehrung: „Insgesamt war im Ein- und Auszahlungsraum ein solches Chaos, ein solches Durcheinander und es wurde mit solcher Geschwindigkeit gearbeitet, dass Genauigkeit ohnehin nur lästig war und auch gar nicht so wichtig.“

Adele Spitzeders Liebe zu Frauen war von wechselvollem Glück. „Da traf es sich gut, dass nebenan Mutter und Tochter Ehinger einzogen. Vor allem die Tochter Rosa hatte es Adele angetan. Auch sie wollte Schauspielerin werden, Adele nahm sich ihrer an, neben ihren Verpflichtungen, Wechsel zu unterschreiben. Bei einigen privaten Nachhilfestunden kamen sich beide näher, die inzwischen 40-jährige Adele und Rosa mit zarten 21.“ Rosa wurde der Zusammenbruch des Systems ihrer Partnerin zum Verhängnis.

Ein wichtiger Erfolgsfaktor für betrügerische Modelle war damals wie heute ein wohlwollender Klerus. „Michael Buchele war Pfarrer von Hirtlbach im Kreis Dachau und einer der vielen Kleriker, mit denen Adele ein gutes Einvernehmen pflegte. Pfarrer Buchele ‚legte mehrere tausend Gulden bei mir an und, da er die Zinsen stets selbst holte, vom Publikum aber nicht gesehen werden wollte, so empfing ich ihn seinem Wunsche gemäß in meiner Wohnung‘. Und Pfarrer Buchele bestätigte den Namen Dachauer Bank, hätten doch ‚die Leute seiner Gegend alle ihre disponiblen Gelder bei mir liegen‘.“

Spielte mal ein PFarrer nicht gleich mit, wurde er gekauft, berichtet Nebel: „Ein Abstecher in die Privatzimmer der Adele Spitzeder im ersten Stock machte den Vorhaltungen ein Ende. Dort lagerte sie ihr Geld und händigte dem Prediger ‚zu Wohltätigkeitszwecken‘ 1.000 fl. aus. ‚Sehen Sie, Hochwürden, so rächt sich eine Christin‘, seien ihre Abschiedsworte gewesen. Kritik von der Auer Kanzel war nicht mehr zu hören.“

„Anfang 1872 bekam sie von einem Bettelmönch ein großes Kreuz an einem Anhänger geschenkt,“ berichtet Nebel, „das sie von nun an immer zur Schau stellte. In den Zimmern der Bank wurden Heiligenbilder aufgehängt, damit auch ja jeder die Frömmigkeit der Hausherrin bewundern konnte. Allgemein galt sie als Wohltäterin und Bankerin zum Anfassen.“

Auch Staatsdiener ließen sich von Adele Spitzeder überzeugen, denn „sie ersann eine Gegenstrategie, vergab an Polizisten Darlehen zu einem niedrigen Zinssatz. Das sprach sich herum. Sie baute einen ganz neuen Kundenkreis auf, bald waren so viele Polizisten bei ihr Schuldner, dass sich dies sogar bis zum Polizeidirektor Burchtorff herumsprach. Der war fuchsteufelswild. Befahl, dass kein Polizist Kunde dieser Dachauer Bank sein durfte. Adele Spitzeder wusste Rat. Sie trat die Schuld einfach an ihre Bediensteten ab.“

Mit der Verhaftung von Adele Spitzeder lag ihre „Bank“ in Scherben: „Es konnte nicht einmal festgestellt werden, wie viel Geld denn gerade in den Räumen der Spitzeder’schen Privatbank vorhanden gewesen sein müsste, ein Kassenbuch existierte nicht, nicht einmal eine Erkenntnis über Außenstände und Schulden ließ sich den Büchern entnehmen. Ein Quittungsbuch gab es, in dem die Kunden unterschrieben hatten, wenn sie Geld ausgezahlt bekamen. Allein die Namen und Unterschriften waren nicht zu entziffern, Schreibunkundige hatten die üblichen drei Kreuze gemacht.“

Nebel nutzt für sein Buch eine Reihe gesicherter Literaturquellen und Dokumente, um Adele Spitzeder von ihrer Jugend bis zur Haftentlassung vor den Augen der Leser lebendig werden zu lassen: „Von nun an trat sie unter dem Namen Adele Vio auf. Sie komponierte und sang ihre eigenen Lieder, von denen jedoch keine mehr erhalten sind. Hiervon war ein bescheidenes Auskommen möglich, aber eben nur ein bescheidenes. Ein wenig mehr Geld war in Aussicht, als sie im Jahr 1878 ihre Memoiren veröffentlichte, die sie im Gefängnis geschrieben hatte und die nun für 5 Mark erhältlich waren.“

Julian Nebel hat die Chance erkannt, aus einer Reihe historischer Dokumente und Aufzeichnungen ein spannendes Sachbuch zu machen. So gelingt ihm eine detailreiche Darstellung des Verlaufs eines betrügerischen Geschäftsbetriebs, wie er noch heute zum Schaden von gutgläubigen Anlegern in immer neuen Varianten erfunden wird.

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