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Demokratie im Sinkflug

Von Dr. Oliver Everling | 21.August 2017

Im Länderrating sind solche Staaten im Vorteil, die eine stabile, gelebte Demokratie zeigen. Umstritten ist allerdings der Ansatz US-amerikanischer Agenturen, das US-amerikanische Vorbild zum Maßstab für solche Staaten zu machen, denen ein Rating in der obersten Kategorie zuteil werden soll. In jedem Fall muss aber ein Buchtitel aufschrecken, der die Demokratie im Sinkflug sieht, und das Buch auch noch von einem Autor oder – im vorliegenden Fall – Autorin stammt, der man ein Urteil darüber zutraut.

Prof. Dr. Gertrud Höhler ist seit der Zeit des Höhepunktes der Machtentfaltung der Deutschen Bank in Europa jedem Top-Manager ein Begriff. Von 1987 bis 1990 entwickelte sie die strategische Kommunikation der Großbank und genoss bis zu seiner Ermordung 1989 das Vertrauen von Alfred Herrhausen.

Das Buch „Demokratie im Sinkflug – Wie sich Angela Merkel und EU-Politiker über geltendes Recht stellen“ ist kein Buch der Rechtswissenschaften, in dem Paragraph für Paragraph mit vielen Fußnoten nachgewiesen würde, welchen Rechtsbrüchen sich die deutsche Bundeskanzlerin und EU-Politiker wie Claude Juncker schuldig machen. Die Literaturwissenschaftlerin Höhler lehrte von 1972 bis 1993 an der Universität Paderborn Germanistik.

Mit ihrem neuen Buch liefert Höhler ein Werk ab, das dem Leser in einer Zeit kurzsilbiger Twitter-Nachrichten in Erinnerung ruft, dass Literatur eine Gattung der Kunst sein kann. So dürfte die Lektüre ihres Buches selbst denen ein literarischer Genuss sein, die am liebsten schon heute Straßen und Plätze den Namen der deutschen Bundeskanzlerin geben und der großen Politikerin Denkmäler errichten würden.

Das Buch handelt von der über Deutschland hinausreichenden Demontage der Demokratie. Angela Merkel wurde für ganz Europa, sogar über Europa hinaus eine bedeutende Persönlichkeit der Geschichte durch ihren Einfluss auf den Abbau von Demokratie und Rechtsstaat. Höhler skizziert den Weg von Angela Merkel, die als Skeptikerin der Volksbewegung der DDR und „Dilettantin“ in der Politik begann und im Systemwechsel weg von Demokratien hin zur Autokratie zu enden droht.

Das Buch gewinnt seinen Spannungsbogen wie auch seine Stringenz aus der Konzentration auf die Hauptperson Angela Merkel, die im Rollenspiel mit Wladimir Wladimirowitsch Putin, Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan und anderen Kontur erhält. Höhler identifiziert Gemeinsamkeiten der Autokraten, die sich nicht in Ideen von „gelenkten“ Demokratien und Rechtsbrüchen im „Rettungsgeschäft“ erschöpfen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt: Wie aus einem Akt der Verzweiflung fügt Höhler ihrem Buch gleich in ihrem ersten Kapital „Wenn die Sonne sinkt“ einen Abschnitt „Das Medium ist die Message“ im Umfang von vier Seiten über den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz ein. „Er ist die Alternative“, beschwört Höhler den Leser und verstört damit jeden, der sich mit der roten Spur von Martin Schulz in Europa befasst hat.

Statt die aussichtslose Kandidatur von Martin Schulz zum Beweis zu nehmen, wie weit sich Deutschland bereits von einem funktionierenden demokratischen Wettbewerb entfernt hat, wo die Liberalen über eine Legislaturperiode hinweg entsorgt wurden und mit der AfD nur neue Dilettanten, wie Höhler sie nennt, in die Parlamente drangen, glaubt Höhler in Martin Schulz einen ernstgemeinten Kanzlerkandidaten zu sehen. Sozialdemokraten hätten ihn wohl kaum einstimmig zum Kandidaten gewählt, wenn die Delegierten in ihm ernsthaft den nächsten Kanzler gesehen hätten – denn dann hätte der interne Streit um hochdotierte Beamten- und Ministerposten usw. ihm längst auch frustrierte Widersacher im eigenen Lager eingebracht. Erfahrungsgemäß kostet einem künftigen Kanzler das Gezänk der Genossen um Ämter immer auch Delegiertenstimmen.

Höhler erkennt zwar korrekt, dass sich Europa mit Angela Merkel auf dem Weg in eine sozialistische Planwirtschaft befindet, sieht aber nicht den Unterschied zu China oder anderen sozialistischen Staaten, in denen Pläne in einem geordneten Verfahren entstehen. Deutschlands Problem ist doch gerade die planlose Planwirtschaft, die aus einer unübertroffenen Fülle von Verboten und Maßregelungen besteht, aber kein im Konsens herbeigeführtes Ziel kennt. Die von Höhler ausführlich diskutierten Beispiele wie die unvorhergesehene Verstaatlichung der Energiewirtschaft sowie die von der Bundeskanzlerin aufgelösten Grenzen ihrer Macht, beispielsweise in der Flüchtlingspolitik, liefern dafür doch genügend Evidenz.

Das Buch von Höhler verhindert den Wahlsieg von Angela Merkel nicht. Gerade deshalb ist es aber auch noch nach der Wahl zum Deutschen Bundestag 2017 eine klare Literaturempfehlung: Höhlers Buch bleibt weit über den Wahltag hinaus von politischem, literarischem und historiographischem Wert.

Themen: Länderrating, Rezensionen | Kein Kommentar »

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