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Deutsche Wirtschaftspolitik verliert Wirtschaft aus den Augen

Von Dr. Oliver Everling | 30.Oktober 2023

Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE, kommentiert wöchentlich was die Märkte bewegt. Heute titelt er: „Deutsche Wirtschaftspolitik sollte die Wirtschaft nicht aus den Augen verlieren“. In dieser Ausgabe beleuchtet er anlässlich der am Dienstag vorgestellten Industriestrategie die Herausforderungen des Wirtschaftsstandorts Deutschland:

„In der Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland sollte über einen Punkt Klarheit herrschen: Es mag viele gute Gründe für eine Energiewende geben, doch sie wird unweigerlich die Energiepreise in die Höhe treiben. Das verändert jetzt schon den Industriestandort…Doch auch der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat erkannt, dass sich Deutschland eine Abwanderung von Unternehmen, die für Wohlstand und Steuereinnahmen sorgen, nicht leisten kann. Die Industrie sei nicht nur wirtschaftlich bedeutend, sagte Habeck am Dienstag bei der Vorstellung seiner Industriestrategie. Sie trage entscheidend zum sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft bei und auch zu ihrer demokratischen Stabilität. Auch hat er sich Steuererleichterungen und Subventionen für Investitionen von Privatunternehmen sowie allgemein eine Verbesserung der Angebotsbedingungen vorgenommen. Zentraler Punkt der neuen Strategie ist das Ziel, energieintensive Branchen wie die Chemie, die Zementherstellung und die Glasproduktion im Land zu halten. Eine endgültige Bewertung der Strategie wird noch von der konkreten Ausgestaltung dieser Eckpunkte abhängen.

Auch wenn diese Strategie grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung ist, so stellt sich doch die Frage, ob die Industrie mit einer weiteren Wende in der Energiepolitik noch im Land gehalten werden kann. Lässt sich ein Geist, wenn er einmal der Flasche entwichen ist, wieder in sein Gefäß zurückzwängen? … Mit dem Artikel 194 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union haben sich Mitgliedstaaten darauf geeinigt, die Energiepolitik in Europa „im Geiste der Solidarität“ zu verwirklichen. Tatsächlich aber hat sich Deutschland einseitig ohne hinreichende Absprache mit den anderen Ländern in Europa dazu entschlossen, sich gleichzeitig aus der Nuklearenergie und aus der Kohle zu verabschieden. Auch hier gilt: Mehr Europa würde unserer Wirtschaft und dem einheitlichen Binnenmarkt nützen.

… Doch auch wenn Habeck nun eine neue Industriepolitik ausruft, so meiden viele Aktieninvestoren – auch wir – Branchen in Deutschland, die unter dem Einfluss der Energiepolitik stehen. Wir investieren derzeit bewusst nicht in energieintensive Unternehmen in Deutschland, da Strom Unternehmen hierzulande derzeit mehr als dreimal so viel kostet wie in den USA. Deutschland ist im globalen Wettbewerbsranking des renommierten Instituts IMD zuletzt deutlich auf den 22. Platz abgestürzt. Einer von vielen Gründen ist die geringe Effizienz der öffentlichen Hand. Deutschland leidet nicht nur unter dem Fachkräftemangel, sondern auch unter zu viel Bürokratie. Die Kapitaleffizienz in den USA ist deutlich höher als in Deutschland – gemessen am Return on Equity (Eigenkapitalrendite) und am Return on Invested Capital (Gesamtkapitalrendite) …

Ein zentraler Fehler von Anlegern wird als „Home Bias“ bezeichnet. Damit ist die Neigung von Anlegern gemeint, überproportional stark in den Heimatmarkt zu investieren. Für Anleger, die hohe risikoadjustierte Erträge erzielen wollen, macht es grundsätzlich immer Sinn, das Vermögen breit über Sektoren und Länder zu streuen. Hinzu kommt, dass sich die Wirtschaftspolitik in Deutschland derzeit nicht ausreichend an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientiert. Das sollte für deutsche Anleger ein weiterer Grund sein, nicht überproportional stark in Deutschland zu investieren, sondern international zu diversifizieren.“

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