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Systemausfall

Von Dr. Oliver Everling | 15.April 2019

„Was macht eigentlich Bernd Lucke?“ Das fragt vielleicht mancher, der sich an den Gründer der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) erinnert. Lucke, der sein Baby „AfD“ verließ, verdankt der Partei immer noch sein Mandat im Europaparlament und hat ein Buch mit dem Titel „Systemausfall“ geschrieben. Lucke ist heute Bundesvorsitzen­der einer Kleinpartei namens Liberal­-Konservative Reformer (LKR).

„Mit ‚Systemausfall‘ im modernen Sinne bezeichne ich den Aus­fall eines staatlichen Sicherungssystems“, schreibt Lucke, nachdem er den Leser den Untergang Trojas vor Augen geführt hat. „Ich will mich zunächst auf die beiden prominentesten System­ausfälle der letzten zehn Jahre konzentrieren: die Eurokrise und die Flüchtlingskrise.“

Lucke steigt in sein Buch also mit seinen Lieblingsthemen ein. „Griechenland verbarg durch einen glatten Betrug, dass es im offenen Vertragsbruch lebte. Seine Aufnahme in den Euro war ungefähr so, als würde die katholische Kirche einen eingefleisch­ten Ehebrecher zum Priester weihen.“

„In den Folgejahren ging die Schuldenmacherei Griechenlands mun­ter weiter. Die jährliche Neuverschuldung lag Jahr für Jahr zwischen 6 Prozent und 9 Prozent statt der maximal zulässigen 3 Prozent“, knüpft Lucke an den Stabilitätspakt an. „2008 stieg die Neuverschuldung auf 10 Prozent und 2009 sogar auf 15 Pro­ zent des Bruttoinlandsprodukts. Die EU sah untätig zu. Es wurden kei­nerlei Sanktionen verhängt, obwohl der Rat dies hätte tun können.“

Die Vertragsbrüche waren nur allzu offensichtlich, so dass Lucke folgert: „Deshalb verteidigte die Geschäftsführende Direktorin des IWF, Christine Lagarde, die Eurorettung ja auch mit den Worten: ‚Wir mussten die Verträge brechen, um den Euro zu retten!‘ Aber das war falsch. Man musste keineswegs aus Zeitnot Vertragsbruch begehen.“

Lucke weist der Eurozone einen großen strategischen Fehler nach: Die Eurozone „hatte sich in die Karten gucken lassen, und Griechenland wusste, dass die Eurozone nur bluffte.“ Die Politik der kondi­tionierten Kreditvergabe ist nach Lucke eine ungeeignete Politik, weil sie zwangs­läufig dazu führt, dass der Gegenspieler weiß, wie gut die Karten des anderen sind: nämlich zwangsläufig im Laufe der Zeit immer schlech­ter. „Der Helfende begibt sich mit jeder Hilfsleistung tiefer in eine Ab­hängigkeit vom Hilfeempfänger, und am Ende hat der Hilfeempfänger alle Trümpfe in der Hand.“

Lucke sieht in Griechenland auch den Keim der Flüchtlingskrise: Der Europäische Gerichtshof für Men­schenrechte (EGMR) kam zu dem Ergebnis, dass Griechenlands Asylsystem und seine Behandlung von Asylbewerbern einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention darstellten. „Seit dem Urteil des EGMR im Januar 2011 durfte kein EU­-Mitgliedsstaat mehr die Regeln der Dublin­-Verordnung auf Griechenland anwen­den und dort registrierte Flüchtlinge zuständigkeitshalber dorthin zurücksenden.“

Es habe danach gar keinen Grund mehr gegeben, weshalb Griechen­land eingereiste Flüchtlinge noch registrieren sollte. „Vielmehr konnte Griechenland seine Aufmerksamkeit darauf konzentrieren,“ schreibt Lucke, „allen unwillkommenen Asylbewerbern möglichst schnell die Weiterreise in ein anderes EU­-Land zu ermöglichen.“

Weder das Grundgesetz noch die Genfer Flüchtlingskonvention schützen die Opfer von Kriegen oder Bürgerkriegen. Aber die EU­-Gesetzgebung tut dies, in­ dem sie die neue Kategorie des „subsidiär Schutzberechtigten“ schuf, kritisiert Lucke: „Kriegshandlungen sind keine individuelle Verfolgung. Man wird Op­fer eines Krieges unabhängig von seiner Hautfarbe, seiner sexuellen Ori­entierung, seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit. Kriege oder Bürgerkriege sind schreckliche Schicksalsschläge für alle Bürger eines Staates, aber sie haben nichts mit individueller Verfolgung zu tun.“

Der beurlaubte Professor der Volkswirtschaftslehre Lucke erhellt mit seinen Darstellungen auch die aktuelle Komplexität der Austrittsverhandlungen bzw. der Bemühungen zur Abwendung des Brexits: „Obwohl Großbritannien dem Euro gar nicht ange­hörte, wäre sein vitalster Wirtschaftszweig von den Reparaturarbeiten der Eurozone unmittelbar betroffen. Aus britischer Sicht war es ein Schreckgespenst, dass die EU den britischen Finanzsektor regulieren würde, um eine nicht­britische Währung zu retten.“

Die Probleme in England gründen nach Lucke nicht nur in der EU: „Die Ver­stopfungseffekte in der sozialen Infrastruktur Englands sind keines­wegs nur auf die voreilig in Kraft gesetzte Personenfreizügigkeit für die Bürger der osteuropäischen EU­-Neumitglieder zurückzuführen, sondern sind gleichrangig auch ein Erbe des britischen Kolonialreichs.“

Während sich die ersten beiden Kapitel „Systemausfälle und Kontrollverluste“ sowie „Von der Einstimmigkeit zur Mehrzüngigkeit“ eher auf den Humus beziehen, auf dem die AfD wachsen konnte, setzt sich Lucke im Kapitel „Rechtsstaatlichkeit, Rechtschaffenheit und Rechtsextreme“ mit seinen ehemaligen Parteifreunden auseinander. Hier liefert der ehemaligen AfD-Vorsitzende wichtige Angaben zum „Gen-Code“ dieser heute erst sechsjährigen Partei, der drei Strömungen in der AfD anschwellen ließ. „Wenn ich heute auf die AfD schaue,“ bekennt Lucke, „fühle ich mich wie ein Vater, dem das Kind genommen wurde, um es unter Räubern großzuziehen.“

„Die erste Strömung war im Wesentlichen eine Kritik am Euro, die zweite eine Kritik an der EU. Das schloss sich nicht aus und demzufolge waren viele AfD­-Mitglieder (auch ich selbst) mit unterschiedlichen Ak­zentsetzungen beiden Strömungen zuzuordnen. Das gemeinsame Be­streben war es, die Fehlentwicklungen zu korrigieren und Europa zu verbessern. Ich nenne diese Gruppe deshalb die ‚Verbesserer‘.“

Aus der von ihm gegründeten AfD trieb ihn nach eigener Darstellung eine dritte Strömung, die Strömung der „Verbitterten“: „Ihre ge­samte Grundhaltung dem Staat und den Politikern gegenüber war skeptisch, pessimistisch und eben verbittert.“

Verbitterung sei die Voraussetzung für die Radikalisierung einer Partei. In der Flüchtlingskrise seien selbst äußerst abstruse Vorwürfe wie „Merkel will Deutschland abschaffen“ oder „Brüssel plant eine Umvolkung“ bei den Verbitterten auf fruchtbaren Boden gefallen, „weil diese Parolen deren genereller Grundeinstellung, schlecht vom Staat und sei­nen führenden Repräsentanten zu denken, entsprachen.“

Die Medien spielten bei dieser Entwicklung naturgemäß eine große Rolle: „Erst jetzt war die Partei das, was viele Journalisten so lange fälsch­lich behauptet hatten. Die Berichterstattung war zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden, weil die moderaten Mitglieder die perma­nente Rufschädigung nicht ertragen wollten – und weil der schlechte Ruf die falschen Mitglieder anzog. Heute geht dies so weit, dass ein beträchtlicher Teil der Partei unter dem Einfluss rechtsextremen Ge­dankenguts steht.“

Die Vorstellung einer „Umvolkung“ sei ja eine origi­när völkische. Die Verbitterten in der AfD waren ein idealer Nährbo­den für die, so Lucke, die das Saatgut völkischer Ideen ausstreuen wollten. Die Partei bot ihnen eine große Zuhörerschaft von Verbitterten als dankbaren Resonanzboden, der für pseudo­intellektuelle Theo­rie völkischer Politik empfänglich sei. So diagnostiziert der Professor die Krankheit der AfD: „Diesem Milieu tritt niemand in der AfD entgegen. Deshalb kann es wie ein Krebsgeschwür wuchern.“ Luckes Medikament: „Gegen Rechtsextreme helfen nur Recht­schaffenheit und Rechtsstaatlichkeit.“

Nachdem in seinem dritten Kapitel die AfD entlarvt wurde, widmet sich Lucke in den restlichen drei Kapiteln den „Systemausfällen“, der Spaltung Europas und der Zukunft der EU. Lucke hilft dem Leser u.a. die komplexe Problematik des Brexits zu verstehen. „Wenn Großbritannien trotz EU­-Austritts im Binnenmarkt verbliebe – also sich zum Beispiel am Status von Norwegen orientieren würde –, dann wäre Großbritannien immer noch dem Europäischen Gerichtshof und rund 80 Prozent aller EU­-Gesetze unterworfen. Aber anders als heute hätten die Briten kei­nerlei Möglichkeit mehr, bei der Gesetzgebung mitzubestimmen und ihre eigenen Interessen einfließen zu lassen. Wäre dies nicht eine klare Verschlechterung gegenüber der Vollmitgliedschaft in der EU? Wird diese Verschlechterung wirklich aufgewogen dadurch, dass man rund 20 Prozent an eher weniger bedeutenden Gesetzen nun nicht mehr umsetzen muss?“

Der Europaparlamentarier Lucke spricht sich dafür aus, „aus dem Europaparlament ein Parlament für den Binnenmarkt machen. In diesem Binnenmarktparlament sollen alle Teilnehmerstaaten des Europäischen Binnenmarkts gleichberech­tigt mitwirken können. Die Apartheid hätte ein Ende.“

Der Leser wird durch die Bilanz ernüchtert, die Lucke über seine Arbeit als Europaabgeordneter zieht: „Kein Abgeordneter liest auch nur ein Zehntel dessen, was er abzustimmen hat. Er folgt vielmehr in den meisten Fällen blind den Empfehlungen eines Fraktionskollegen, der aber selbst nicht alles le­sen kann, was in seine Zuständigkeit fällt, sondern viele Empfehlungen nur auf der Basis der Empfehlungen seiner Mitarbeiter gibt.“ Lucke gibt zahlreiche Beispiele: „Die DSGVO ist übrigens ein Gesetz mit Binnenmarktrelevanz. Es ist ein Beispiel für ein misslungenes, überregulierendes Gesetz.“

Lucke rät daher eher zur Umkehr, statt allgemein auf noch mehr Zuständigkeiten und Kompetenzen der Institutionen der EU zu setzen: „Um die EU zu entschlacken, sollte künftige Gesetzgebung über­wiegend Ziele und Prinzipien festlegen, die Mittel und Wege aber den Mitgliedsstaaten freistellen.“

Lucke besinnt sich offenbar mit seinem Buch auf seine Wurzeln, seine Arbeit als Professor und Lehrer, der die Welt sachlich beschreibt, erklärt und zu dem einen oder anderen Punkt auch mal eine Prognose wagt und eine Empfehlung gibt. Während der Untertitel seines Buches „Systemausfall“, nämlich „Europa, Deutschland und die AfD: Warum wir von Krise zu Krise taumeln und wie wir den Problemstau lösen“, eine herbe Abrechnung mit politischen Gegnern nicht ausschließen würde, zeigt sich doch, wie Lucke Polemik und Propaganda vermeidet und ein Buch vorlegt, das einerseits seine Sicht historischer Ereignisse dokumentiert und andererseits einen fundierten Diskussionsbeitrag zu aktuellen Problemen der EU liefert.

Die CDU erregt Luckes Mitleid: „die CDU dauert mich“. Mit Blick auf die Europawahl 2019 schreibt Lucke: „Deshalb empfehle ich Ihnen voll Großmut: Wählen Sie CDU! Aber bitte nur, wenn die CDU sich revanchiert und voll Großmut empfiehlt: ‚Wählen Sie Lucke!'“

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