Wirtschaftspolitische Neuausrichtung zur Stärkung des Potenzialwachstums
Von Dr. Oliver Everling | 1.November 2024
Um Deutschlands wirtschaftliches Potenzial zu stärken und die strukturellen Schwächen zu überwinden, fordert das Bundesministerium der Finanzen ein Sofortprogramm in drei zentralen Handlungsfeldern. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, die Wachstumsdynamik zu entfesseln, eine wettbewerbsfähige Klimapolitik zu gestalten und den Arbeitsmarkt zu mobilisieren. Sie setzen klare Prioritäten in der Wirtschaftspolitik, um die Innovationskraft, Produktivität und langfristige Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands nachhaltig zu fördern.
Das erste Handlungsfeld adressiert die Notwendigkeit, der deutschen Wirtschaft neuen finanziellen und regulatorischen Spielraum zu verschaffen. Ein zentrales Element ist ein dreijähriges Moratorium für neue Regulierungen, das sämtliche bürokratischen Hürden überdenkt und die Bürokratielast senken soll. Auch im Bereich des „Green Deals“ sollen Nachweis- und Berichtspflichten auf ein Mindestmaß beschränkt werden, um Unternehmensressourcen besser auf wertschöpfende Tätigkeiten konzentrieren zu können. Ein weiterer Vorschlag betrifft die Unternehmensbesteuerung. Das Programm plädiert für einen schrittweisen Abbau des Solidaritätszuschlags und eine Senkung der Körperschaftsteuer, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und mehr Anreize für private Investitionen zu schaffen. Darüber hinaus ist die Förderung von Innovationssprüngen durch Wagniskapital ein Schwerpunkt. Hier sollen Start-ups und wachsende Unternehmen gestärkt und mehr privates Risikokapital mobilisiert werden.
Im zweiten Handlungsfeld zielt das Sofortprogramm auf eine europäisch ausgerichtete Klimapolitik, die Deutschland vom alleinigen nationalen „Klimaschutz-Sonderweg“ abbringt und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Deutschland soll sich stärker an den EU-Klimazielen orientieren, anstatt sich durch nationale Alleingänge zu belasten. Ein weitreichender Vorschlag ist der Ersatz nationaler Klimaziele durch europäische, um wirtschaftliche Verwerfungen und vermeidbare Kosten im Bereich der Dekarbonisierung zu reduzieren. Zusätzliche sektorale Ziele für Emissionen sollen abgeschafft werden, um das Gesamtsystem nicht unnötig zu verteuern. Darüber hinaus empfiehlt das Sofortprogramm den Ausstieg aus der Förderung erneuerbarer Energien durch staatlich garantierte Vergütungen, da diese Maßnahmen nicht nur ineffektiv, sondern auch finanzpolitisch belastend seien. Stattdessen soll die volle Bandbreite an Technologien zugelassen werden, beispielsweise Carbon Capture and Storage (CCS), um die Energiekosten langfristig zu stabilisieren und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Das dritte Handlungsfeld konzentriert sich auf die Mobilisierung des Arbeitsmarktes und den Abbau von Fehlanreizen. Ein erster Ansatz ist die Beseitigung von Hürden, die der Ausweitung der Arbeitszeit entgegenstehen, um die effektiven Arbeitsstunden zu erhöhen und mehr Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Vorschläge umfassen auch eine Flexibilisierung der Arbeitszeitregelungen, etwa durch die Umstellung von der täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit. Ein weiterer Ansatz ist die Bekämpfung der „kalten Progression“, die Lohnerhöhungen oft durch höhere Steuern entwertet und damit das Einkommen nicht nur gleichmäßig, sondern auch fairer verteilen soll. Ebenso soll die Rentenpolitik den demografischen Herausforderungen angepasst werden, um sicherzustellen, dass junge Generationen durch das Umlagesystem nicht unverhältnismäßig belastet werden.
Das Sofortprogramm betont die Dringlichkeit einer wirtschaftspolitischen Neuausrichtung, die auf einem starken Ordnungsrahmen basiert. So sollen die Bedingungen für Unternehmen geschaffen werden, die es ihnen ermöglichen, eigenverantwortlich auf die veränderten globalen und regionalen Marktanforderungen zu reagieren. Das Konzept einer marktwirtschaftlich orientierten Reform setzt dabei auf einen Ordnungsrahmen, der statt zentraler Steuerung Wettbewerb und Eigenverantwortung stärkt und die wirtschaftlichen Gestaltungsspielräume ausweitet. Dieses Programm zielt auf eine stabile, langfristig tragfähige Basis, die den Wirtschaftsstandort Deutschland stärkt und seine Attraktivität im globalen Wettbewerb sichert.
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Deutschland schwächt sich selbst
Von Dr. Oliver Everling | 1.November 2024
Deutschland verfügt über bedeutende wirtschaftliche Stärken: Innovationskraft, geistiges Eigentum, hochqualifizierte Fachkräfte und einen soliden Mittelstand. Dennoch zeigt sich, dass Deutschland sein Potenzial nicht voll ausschöpft. Kurz- und mittelfristige Prognosen wurden bereits nach unten korrigiert, und konjunkturelle Schwächen verschärfen die Problematik nur teilweise. Die eigentliche Ursache liegt in strukturellen Herausforderungen und politischen Entscheidungen, die das Wirtschaftswachstum nachhaltig hemmen.
Das Produktivitätswachstum, entscheidend für die wirtschaftliche Dynamik, hat sich deutlich verlangsamt. Ein dichtes Netz aus Bürokratie und Regulierung bremst Unternehmen aus und beeinträchtigt Innovationskraft sowie Unternehmergeist. Hinzu kommt der demografische Wandel, der durch den bevorstehenden Austritt der Baby-Boomer aus dem Erwerbsleben beschleunigt wird. In Deutschland sind die Arbeitsstunden pro Beschäftigtem im internationalen Vergleich gering, und mangelnde Arbeitsanreize verschärfen den Fachkräftemangel. Die Konsequenzen spüren die sozialen Sicherungssysteme, die unter der Last des demografischen Wandels leiden.
Ein weiterer Faktor ist Deutschlands ambitionierter Sonderweg beim Klimaschutz. Das Land plant, schon bis 2045 klimaneutral zu sein und dabei vollständig auf Kernenergie zu verzichten. Dies führt zu einem vorzeitigen Wertverlust „fossiler“ Kapitalgüter in Unternehmen und Haushalten, wie etwa Maschinen, Fahrzeugen und Heizungen. Zugleich steigen die Energiekosten massiv an. Diese politischen Entscheidungen schaffen Unsicherheit, belasten Standortbedingungen und bremsen Investitionen, da sowohl Haushalte als auch Unternehmen angesichts dieser Risiken zurückhaltender agieren. Darüber hinaus herrscht ein erheblicher Investitionsstau. In den vergangenen Jahren wurden dringend notwendige staatliche Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Verteidigung nicht ausreichend genutzt, was teilweise durch die Priorisierung des Wohlfahrtsstaates verursacht wurde. Trotz einer erhöhten Investitionsquote bleiben die Rückstände in diesen Bereichen gravierend, und es ist eine langfristige Strategie erforderlich, um die Defizite zu beseitigen.
Auch die fragmentierte Weltwirtschaft wirkt sich negativ auf Deutschland aus. Geopolitische Spannungen und protektionistische Tendenzen treffen die stark exportorientierte Volkswirtschaft überproportional. Der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit schadet den Wachstumsaussichten und gefährdet die Möglichkeit, von Produktivitätsvorteilen in anderen Regionen zu profitieren.
Insgesamt ist eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik notwendig. Die bestehenden strukturellen Schwächen gefährden die Stabilität der Staatsfinanzen und die Position Deutschlands in der Eurozone. Nur durch nachhaltiges Potenzialwachstum und eine gezielte Wirtschaftswende können langfristige Risiken für Finanzstabilität, Inflation und Generationengerechtigkeit abgewendet werden. Ein entschlossener Fokus auf Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Verteidigung sowie eine Vereinfachung der bürokratischen Vorgaben sind notwendig, um die wirtschaftliche Basis zu stärken und die Wachstumsfähigkeit zu sichern.
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Hohe Steuerlast in Europa: Wachstumshemmnis und Herausforderung für die Staatsfinanzen
Von Dr. Oliver Everling | 28.Oktober 2024
Die Auswirkungen einer hohen Steuerlast in Europa, insbesondere in Frankreich, werden oft unterschätzt – eine Einschätzung, die Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE, in seinem aktuellen CIO View bestätigt. Die Steuerlast, die in vielen EU-Ländern stark gestiegen ist, beeinflusst zunehmend Investitionen und wirtschaftliche Entwicklung negativ.
In seinem Bericht erklärt Viebig, dass die Haushaltsberatungen für 2025 zwar noch andauern, die Herausforderungen für die Finanzminister jedoch bereits deutlich sind: „Es ist dringend erforderlich, die Schuldendynamik zu stabilisieren und die dringend benötigten Haushaltspuffer wieder aufzubauen.“ So beschreibt Pierre-Olivier Gourinchas vom Internationalen Währungsfonds die Situation und unterstreicht den Handlungsdruck auf die Regierungen. Doch der Weg, die Bevölkerung durch steuerliche Belastungen zu entlasten, scheint politisch heikel.
In den großen EU-Ländern ist das Verhältnis der Steuerlast zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den letzten Jahren stetig gestiegen. In Deutschland etwa wuchs die Steuerlast von 36,4 Prozent des BIP im Jahr 2000 auf 39,3 Prozent im Jahr 2022, wie Viebig feststellt. Besonders drückend sei die Situation in Frankreich, wo die Steuerlast 2022 bei 46,1 Prozent des BIP lag – der höchste Wert aller OECD-Länder. Die steigenden Abgaben belasten nicht nur die Staatsfinanzen, sondern beeinflussen auch das wirtschaftliche Umfeld erheblich.
Frankreich steht vor einem besonders großen Dilemma: Das schwache Wirtschaftswachstum und die hohe Verschuldung zwingen die Regierung zur Haushaltsdisziplin, die jedoch schwer umzusetzen ist, ohne das Wirtschaftswachstum weiter zu beeinträchtigen. Der französische Premierminister Michel Barnier plant deshalb umfassende Maßnahmen zur Reduktion des Defizits, das im Jahr 2024 bei 6,1 Prozent des BIP liegen könnte und die Maastricht-Obergrenze von 3 Prozent weit übersteigt. Seine Strategie sieht Steuermehreinnahmen von rund 25 Milliarden Euro vor, wobei Unternehmen und private Haushalte stark zur Kasse gebeten werden sollen.
Zu den Maßnahmen gehören unter anderem ein „außerordentlicher Beitrag zum Gewinn sehr großer Unternehmen“ in Höhe von 8 Milliarden Euro und ein „Sonderbeitrag für sehr hohe Einkommen“ in Höhe von 2 Milliarden Euro. Auf der Ausgabenseite plant Barnier Einsparungen bei Sozialleistungen, Gesundheitsausgaben und Renten, was insgesamt 14,8 Milliarden Euro einbringen soll.
Viebig stellt fest, dass gerade die steuerliche Belastung von Unternehmen deren Innovationskraft und Investitionsanreize deutlich senke. „Die Steuerlast belastet jetzt schon die Wirtschaft und engt den Handlungsspielraum der Regierung ein“, so seine Analyse. Die wirtschaftliche Dynamik leidet darunter erheblich, da hohe Steuern und Abgaben nicht nur die Konsumnachfrage dämpfen, sondern auch Investitionen ausbremsen. Langfristig könnte die Wachstumsschwäche Frankreichs durch die Steuerlast sogar noch verstärkt werden, was wiederum die Steuerbasis schwächt und den Kreislauf der Belastung verschärft.
Angesichts dieser Herausforderungen sieht Viebig auch die demografischen Trends als ernstes Problem. Ein steigender Altersdurchschnitt in allen EU-Ländern beansprucht die Sozialsysteme immer stärker und verstärkt den Druck auf die Staatsfinanzen. Viebig führt aus, dass „die Sozialsysteme immer stärker beansprucht werden“, was wiederum höhere Beiträge erfordere. Die Erhöhung der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland für das kommende Jahr sei dafür ein klares Beispiel.
Der Spielraum der europäischen Regierungen, auf die Wirtschaft einzuwirken, wird durch die hohe Steuerlast stark eingeschränkt. Besonders Frankreich steht unter starkem Druck, einen Weg zu finden, die Staatsfinanzen zu sanieren, ohne das Wachstum weiter zu schwächen.
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Optimistisch trotz Unsicherheiten: Schwellenländeranleihen bleiben attraktiv
Von Dr. Oliver Everling | 28.Oktober 2024
„Wir bleiben trotz des komplexen globalen Umfelds für Schwellenländeranleihen konstruktiv“, sagt Denise Simon, Co-Head im Emerging Markets Debt-Team bei Lazard Asset Management. Aus Ihrer Sicht sind es drei Entwicklungen, die die Marktbewegungen in den kommenden Monaten maßgeblich beeinflussen werden.
1. Sinkende globale Inflation: Das Phänomen einer rückläufigen globalen Inflation habe sich nun weltweit verfestigt. Die Preise für Güter seien seit fast zwei Jahren disinflationär, und zuletzt sei auch die Inflation im Dienstleistungssektor gegenüber ihren Höchstständen von 2021-2022 deutlich zurückgegangen. „Dieser Trend ist sowohl in den Industrieländern als auch in den Schwellenländern zu beobachten, wobei einige Länder wie China sogar kurz vor der Deflation stehen“, sagt Simon. In diesem Umfeld würden Anleger in der Regel Long-Positionen in auf US-Dollar lautender Duration bevorzugen, also Positionen, die von sinkenden Renditen profitieren. „Was die lokale Duration betrifft, so hängt unsere Positionierung von der Wirksamkeit der Geldpolitik in den einzelnen Ländern und der Glaubwürdigkeit ihrer Zentralbanken ab“, erklärt die Expertin. „In Ländern, in denen die Zentralbanken als glaubwürdig gelten, wie Mexiko und Indonesien, bevorzugen wir Long Duration-Positionen in Lokalwährung. Umgekehrt sind wir in Ländern, in denen es anhaltende Bedenken hinsichtlich der Einhaltung der Inflationsziele oder steigender langfristiger Inflationserwartungen gibt, wie z. B. Brasilien, vorsichtiger.“
2. Nachlassendes US-Wachstum gegenüber dem Rest der Welt: Das relative Wachstum sei nach wie vor der wichtigste Bestimmungsfaktor für die Bewertung von Devisen. Frühindikatoren deuten laut Simon darauf hin, dass sich das US-Wirtschaftswachstum im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Welt (mit Ausnahme Chinas) wahrscheinlich schneller abschwächen wird. „Diese Entwicklung stellt eine Abkehr vom letzten Jahrzehnt dar. Wir gehen davon aus, dass sich die Kapitalströme deshalb von den USA auf andere Länder und Regionen verlagern werden, da Investoren andernorts nach Anlagegelegenheiten suchen“, sagt Simon. Angesichts einer ungünstigeren Wachstumsdynamik und einem anhaltenden Zinssenkungszyklus in den USA von September 2024 bis Dezember 2025 erwartet die Expertin eine breite Abwertung des US-Dollars. „Vor diesem Hintergrund sollten Anleger Short-Positionen in US-Dollar gegenüber den meisten Währungen in Betracht ziehen, es sei denn, die Wachstumsaussichten für das andere Land sind schlechter als die der Vereinigten Staaten“, so die Einschätzung von Denise Simon.
3. US-Wahlen: Die bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen dürften sich aus Sicht der Expertin ebenfalls erheblich auf Schwellenländeranleihen auswirken. „Gewinnt die demokratische Kandidatin und Vizepräsidentin Kamala Harris, wird sie sich wahrscheinlich mit einer geteilten Regierung abfinden müssen. Zwar dürfte das Risiko für Strafzölle sinken, aber es könnte auch schwächere Wachstums- und Investitionsbedingungen in den Vereinigten Staaten mit sich bringen, was zu einer anhaltenden Outperformance von EM-Anlagen führen könnte“, erklärt sie. Auf der anderen Seite könne ein Sieg des Republikaners Donald Trump zwei unterschiedliche Szenarien hervorrufen: „Ein klarer Sieg der Republikaner würde ein erhebliches Schlagzeilenrisiko sowie das Potenzial für hohe Zölle auf Importe mit sich bringen – 60 Prozent gegenüber China und 10 Prozent oder mehr gegenüber Europa“, sagt Simon. „Dies könnte diese Regionen dazu veranlassen, ihre Währungen abzuwerten, um die Auswirkungen der Zölle auszugleichen, wodurch in US-Dollar denominierte Vermögenswerte gegenüber solchen in anderen Währungen attraktiver würden.“ Sollte Trump jedoch mit einer geteilten Regierung gewinnen, bei der die Demokraten das Repräsentantenhaus übernähmen, erwartet Simon eine leichte Schwäche bei Schwellenländeranlagen, welche in erster Linie die Währungen beträfe.
Denise Simon hält abschließend fest: „Wir beobachten weiterhin potenzielle Risiken und globale Entwicklungen, um sicherzustellen, dass wir gut positioniert sind, um die Chancen der kommenden Monate zu nutzen.“
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Scope Ratings entscheidend
Von Dr. Oliver Everling | 27.Oktober 2024
Im aktuellen Urteil des Bundesgerichtshofs zur Greensill-Bank betont das Gericht die zentrale Rolle von Ratingagenturen bei der Beurteilung der Kreditwürdigkeit von Banken. Der Fall, bei dem eine bayerische Gemeinde infolge der Insolvenz der Greensill-Bank erhebliche finanzielle Verluste erlitt, hob die Verantwortung und Rolle der Finanzdienstleister sowie die Bedeutung der Ratings von anerkannten Agenturen hervor.
Die Klägerin, eine bayerische Gemeinde, argumentierte, dass sie bei ihren Anlagen auf die Beratung und Marktkenntnis des Finanzdienstleisters vertraut habe und davon ausgegangen sei, dass nur sichere Anlageoptionen vermittelt würden. In diesem Zusammenhang verwies die Klägerin auf verschiedene Medienberichte, die schon Monate vor der Insolvenz über mögliche Risiken bei der Greensill-Bank spekulierten und von einer Überprüfung durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) berichteten.
Trotz dieser Berichte empfahl der Finanzdienstleister der Gemeinde weiterhin Anlagen bei Greensill und stützte sich dabei auf das Rating der Bank von Scope Ratings, das sich zum Anlagezeitpunkt noch auf Investment-Grade-Niveau befand. Der Bundesgerichtshof stellte klar, dass Finanzdienstleister auf aktuelle Bewertungen einer anerkannten Ratingagentur vertrauen dürfen, solange keine konkreten Hinweise vorliegen, die deren Aussagekraft infrage stellen. Er stellte fest, dass Ratingagenturen fundierte, systematische Analysen durchführen und ihre Bewertungen regelmäßig aktualisieren. Dies gewährleiste, dass die Agenturen die wesentlichen Entwicklungen auf dem Markt zeitnah berücksichtigen und somit eine verlässliche Grundlage für Investitionsentscheidungen bieten.
Im Urteil stellte der BGH fest, dass Finanzdienstleister nicht verpflichtet sind, zusätzliche Nachforschungen anzustellen oder Berichte in der Wirtschaftspresse zu verfolgen, sofern das Rating einer renommierten Agentur keinen Anlass zur Besorgnis gibt. In diesem Fall, so das Gericht, wären zusätzliche Recherchen nur erforderlich gewesen, wenn die Agentur selbst Zweifel an der Kreditwürdigkeit der Greensill-Bank angedeutet oder das Rating gravierend herabgestuft hätte. Medienberichte allein, die nicht auf überprüfbaren und konkreten Tatsachen beruhen, seien für die Risikoeinschätzung nicht maßgeblich. Die Klägerin konnte somit nicht beweisen, dass der Finanzdienstleister gegen eine Pflicht zur sorgfältigen Prüfung verstoßen hatte, da er das Rating der Greensill-Bank korrekt mitteilte und die darin enthaltene Beurteilung für verlässlich hielt.
Das Gericht entschied, dass die Verantwortung für die Einschätzung der Bank anhand des Ratings bei der Gemeinde lag, zumal diese über geschäftserfahrenes Personal in der Kämmerei verfügte. Das Urteil stärkt damit die Position der Finanzdienstleister, die auf die Aktualität und Sorgfalt der Ratingagenturen vertrauen können, solange keine konkreten Hinweise auf die Unzuverlässigkeit des Ratings vorliegen. Für zukünftige Investitionen stellt das Urteil eine klare Richtlinie dar: Solange ein Rating von einer anerkannten Agentur keine Bedenken aufwirft, ist ein Finanzdienstleister berechtigt, dieses als maßgebliche Grundlage für Empfehlungen zu nutzen.
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Goldilocks-Umfeld in den USA
Von Dr. Oliver Everling | 22.Oktober 2024
Dr. Eduard Baitinger, seit 2015 Leiter der Asset Allocation bei der FERI AG, analysiert in seinen Veröffentlichungen regelmäßig die Entwicklungen auf den globalen Finanzmärkten. In seiner jüngsten Einschätzung betont er: „Die globalen Börsen verzeichnen zum Jahresende beeindruckende Gewinne. Weder geopolitische Spannungen noch das schwache Wachstum in China oder die Dauerflaute der deutschen Wirtschaft konnten den Bullenmarkt bremsen.“ Besonders hebt er hervor, dass „selbst die Turbulenzen am japanischen Währungs- und Aktienmarkt, ausgelöst durch die Zinswende der japanischen Notenbank, schnell überwunden wurden.“ Der Experte führt dies vor allem auf die Stärke der US-Märkte zurück: „Die US-Wirtschaft bewegte sich nahezu das gesamte Jahr in einem ‚Goldilocks‘-Umfeld: weder zu stark für Inflationsrisiken noch so schwach, dass Rezessionsängste aufkamen.“
Trotz der optimistischen Entwicklungen mahnt Baitinger jedoch zur Vorsicht. „Die aktuellen Aktienkurse liegen im historischen Vergleich deutlich über den erzielten Unternehmensgewinnen und sind auch im Verhältnis zu den Anleihemärkten ungewöhnlich hoch,“ warnt er. Darüber hinaus sieht er weiterhin schwer kalkulierbare geopolitische Risiken, die „insbesondere durch mögliche Eskalationen im Nahen Osten und die wachsenden Spannungen zwischen dem nuklear bewaffneten Nordkorea und Südkorea“ bestehen.
Mit Blick auf die bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen analysiert Baitinger zwei mögliche Szenarien: „Ein Sieg von Donald Trump mit knapper republikanischer Mehrheit im Kongress oder ein Wahlsieg von Kamala Harris ohne demokratische Kongressmehrheit.“ Beide Szenarien hätten seiner Ansicht nach keine nachhaltigen Auswirkungen auf die Märkte. Allerdings merkt er an, dass ein weniger wahrscheinliches Szenario, bei dem Trump gewinnt, aber keine Kongressmehrheit hat, „zu einer protektionistischen Handelspolitik führen und besonders exportabhängige Märkte wie China und die EU belasten“ könnte.
Dr. Eduard Baitinger ist bekannt für seine fundierten Analysen, die stets die Chancen und Risiken der Finanzmärkte abwägen. Seine Expertise in der Asset Allocation hat ihn seit 2015 zu einem unverzichtbaren Bestandteil der FERI AG gemacht.
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Politische Implikationen des Nobelpreises für Wirtschaft
Von Dr. Oliver Everling | 22.Oktober 2024
Drei Wirtschaftswissenschaftler – Daron Acemoğlu, Simon Johnson und James A. Robinson – wurden für ihre Arbeit zur „Entstehung von Institutionen und ihren Auswirkungen auf den Wohlstand“ mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt. Zwar beschäftigten sich die Forscher mit der Historie der Wohlfahrtsentstehung, doch können ihre Erkenntnisse im Rahmen vieler Transformationen von Volkswirtschaften zu einer zukunftsfähigen Aufstellung sowie im derzeit immer stärker akzentuierten Systemwettbewerb zwischen marktwirtschaftlich demokratisch organisierten und autokratisch geführten Volkswirtschaften behilflich sein, meint Carsten Mumm, Chefvolkswirt bei der Privatbank DONNER & REUSCHEL: „Eine der entscheidenden Erkenntnisse ihrer Arbeit ist, dass sich stabile staatliche und gesellschaftliche Institutionen positiv auf das Wachstum und damit den Wohlstand der Bevölkerung auswirken, wenn sie integrativ, also mit einer Gewaltenteilung versehen sind.“
In diesem Fall erfolgt eine besonders starke Fokussierung auf langfristige wirtschaftliche Chancen mit dem Ergebnis einer nachhaltigen, lange anhaltenden Prosperität. Im Fall von ausbeuterischen Institutionen ergeben sich hingegen erhebliche Ungleichheiten und gesamtwirtschaftliche Stagnation. Die Forscher erkannten, dass viele durch diese Wirkungszusammenhänge ehemals – v.a. im Sinne von Rohstoffvorkommen – reiche Länder, die von Kolonialmächten ausgebeutet wurden im Laufe der Geschichte verarmten, während ursprünglich ärmere Regionen durch einen integrativen Ansatz von Institutionen wohlhabender wurden.
Mumm sieht darin wichtige Erkenntnisse, denn langfristig bergen die auf Demokratie und Marktwirtschaft fokussierten Volkswirtschaften ein deutlich größeres Potenzial für Wirtschaft, Gesellschaft und Menschen: „Insofern kann das Streben nach autokratischen Führungsstilen als Randnotiz der besonders turbulenten Zeiten gesehen werden, in denen Politiker mit sehr einfachen Antworten auf komplexe Problemstellungen früher oder später durch einen fehlenden Tiefgang entlarvt werden.“
Populismus schadet langfristig dem Wohlstand. „Es geht um fundamentale Veränderungen von betriebs- und volkswirtschaftlichen Geschäftsmodellen, die zwar jahrzehntelang bewährt, aber angesichts diverser grundlegender Veränderungen nicht mehr zukunftsfähig sind. Dabei sind Freiheit und Wettbewerb entscheidende Grundfesten bei der Neuorientierung von Produktionskapital in einem schöpferischen Sinne und sollten zulasten staatlichen Interventionismus im Vordergrund stehen. In diesem Zusammenhang ist eine weitere wichtige Erkenntnis, dass technologischer Fortschritt vor allem in Staaten mit inklusiven Institutionen Einzug gehalten und dadurch den Wohlstandsanstieg noch weiter befeuert hat. Zudem“, so Mumm weiter, „beinhalten die Ergebnisse der Preisträger wichtige Hinweise für die Wirtschaftspolitik bei der Begegnung großer Einkommensunterschiede zwischen verschiedenen Ländern. So sind die 20 Prozent reichsten Staaten heute rund 30 mal wohlhabender als die 20 Prozent ärmsten Staaten. Auch wenn die ärmeren Staaten wohlhabender geworden sind, bleibt die Kluft nach oben. Die gute Nachricht ist, dass sich Institutionen und damit Wohlstandsperspektiven verändern können.“
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Drei investierbare Säulen für saubere Energie
Von Dr. Oliver Everling | 21.Oktober 2024
Seit dem Höchststand im Januar 2021 war die Performance nachhaltiger Fonds und Anlagen mit Bezug zum ökologischen Wandel enttäuschend. Doch der Investitionsbedarf zum Erreichen der Ziele des Pariser Abkommens ist keineswegs gesunken. „Im Gegenteil: Der Kapitalbedarf bei einem 1,5-Grad- Szenario wird auf 5.000 Mrd. USD pro Jahr geschätzt – das entspricht einer Verdreifachung des Investitionsvolumens von 2023“, schreibt Laurent Denize, Co-CIO ODDO BHF und CIO ODDO BHF Asset Management, in einem aktuellen Marktkommentar. Es gehe darum, „grüne“ Investitionen nicht als Einschränkung, sondern als Chance zu sehen. Jetzt, da die Bewertungen attraktiver sind und die Unternehmen einen höheren Reifegrad aufweisen, ist es Denize zufolge sinnvoll, das Thema wieder in den Blick zu nehmen. Sauberer Strom sieht er dabei als Kernelement. Derzeit seien Energieerzeugung und -verbrauch für etwa 70% der Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am Energiemix: Aktuell liegt ihr Anteil bei etwa 30%. „Bis 2030 wird dieser bei Fortsetzung der derzeitigen Ausbaupolitik voraussichtlich auf 38% ansteigen“, rechnet Denize vor. Bei Anvisieren eines Erwärmungspfads von unter 2 Grad könnte der Anteil sogar auf 57% steigen. Am schnellsten wachsen die Produktionskapazitäten für Solarenergie mit einem geschätzten jährlichen Wachstum von 18 bis 24% bis 2030.
Ausbau der Netzinfrastruktur: Nach mehreren Jahrzehnten unzureichender Investitionen in die Stromnetze treibt die beschleunigte Elektrifizierung die Infrastrukturkosten zur Stromübertragung und -verteilung stark in die Höhe. In Nordamerika und Europa ist die Infrastruktur im Durchschnitt 30 Jahre alt. Es sind jährliche Investitionen in Höhe von 400 Mrd. USD erforderlich, um zumindest die ältesten Anlagen zu erneuern (19%), bestehende Anlagen zu modernisieren (40%) und neue Infrastrukturen zu schaffen (41%).
Elektrifizierung der Nutzung: Der stark steigende Strombedarf erfordert die Nutzung sauberer Energiequellen. Der Großteil des Strombedarfs entfällt heute auf Gebäude (30%), die Industrie (30%) und den Verkehr (27%). Die rasante Entwicklung von Rechenzentren dürfte ODDO BHF zufolge die Stromnachfrage in den kommenden Jahren noch weiter ansteigen lassen.
Neben der direkten Positionierung in diesen drei Bereichen bieten sich laut Laurent Denize zahlreiche Anlagemöglichkeiten entlang der Wertschöpfungskette der Elektrifizierung: Hoch- und Mittelspannungskabel, Energiespeicherlösungen, Ingenieurdienstleistungen rund um die Strominfrastruktur oder auch Kühlsysteme für Rechenzentren. Nach Angaben der US-Energiebehörde (EIA) wird sich der Energieverbrauch von Rechenzentren in den USA bis 2030 auf 9% des gesamten Strombedarfs mehr als verdoppeln. Um Engpässe zu vermeiden und den enormen CO2-Fußabdruck von KI zu verbessern, sind Microsoft und andere Technologiegiganten bereit, auch Kernenergie zu nutzen, wie der Vertrag von Microsoft mit Constellation in Bezug auf die Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks Three Mile Island zeigt. Der CO2-Fußabdruck von Cloud-Hyperscalern ist laut Denize größer als erwartet: „Dies eröffnet deutliches Wachstumspotenzial für Dekarbonisierungslösungen auch jenseits der Erzeugung sauberen Stroms: saubere Energie, energieeffiziente Geräte, umweltfreundliche Materialien, Kohlenstoffabscheidung und -sequestrierung, die allesamt Investitionsmöglichkeiten in einer Vielzahl von Sektoren eröffnen.“
Ist Künstliche Intelligenz ein Instrument zur Begrenzung der globalen Erwärmung? Der Ausbau der Infrastruktur für generative KI in den USA wird in vielen Branchen erhebliche Produktivitätssteigerungen ermöglichen. Außerdem gebe es häufig unterschätzte Dynamiken, wie z.B. den Mangel an Gleichstromkapazitäten in den USA, wo bis 2025 weniger als 6 Gigawatt an Gleichstromkapazitäten entstehen, aber 10 Gigawatt an verkauften Chips für generative KI zu absorbieren seien. Auch dürfte Denize zufolge Akzeptanz für den Bau von Kernkraftwerken in der Bevölkerung und bei den Regierenden steigen.
Man sollte auf der Suche nach grünen „Perlen“ den Blick nicht nur auf die USA oder nach Asien richten. Denize verweist in seinem Kommentar auch auf den Draghi-Plan. Der ehemalige EZB-Präsident betone Europas technologische Führungsrolle in den Bereichen Nachhaltigkeit und saubere Technologien und zeige Wege auf, wie Europa sich im globalen Wettlauf um den ökologischen Wandel nachhaltig positionieren könne. „Auch Europa bietet viele Chancen. Und das Timing ist ideal: Go for Green!“, so die Überzeugung von Denize.
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Mehr Freiheit für das neue Altersvorsorgedepot
Von Dr. Oliver Everling | 21.Oktober 2024
Der Bundesverband für strukturierte Wertpapiere (BSW) begrüßt die Pläne zur Reform der steuerlich geförderten privaten Altersvorsorge. „Die Richtung stimmt. Insbesondere die barrierefreie, einfache und effiziente Einrichtung eines Altersvorsorgedepots ist eine Chance, neben der offensichtlichen Verbesserung der Altersvorsorge, breite Teile der Bevölkerung für die Möglichkeiten der Kapitalmärkte zu begeistern, die Wertpapierkultur in Deutschland nachhaltig zu stärken und das Niveau der finanziellen Bildung deutlich zu erhöhen“, sagt Christian Vollmuth, geschäftsführender Vorstand des BSW.
In einer Stellungnahme zum Gesetzesentwurf plädiert der BSW für eine Erweiterung der möglichen Anlageinstrumente für das Altersvorsorgedepot ohne Garantien. „Strukturierte Wertpapiere ergänzen die klassischen Wertpapieranlagen Aktien und Anleihen sinnvoll, indem sie für solide Ertragspotenziale sorgen, selbst dann, wenn sich einzelne Aktien oder ganze Märkte nur seitwärts oder sogar abwärts bewegen. Somit können strukturierte Produkte gerade im Hinblick auf die Auszahlungsphase einen wichtigen Beitrag zu Vermögenserhalt und -absicherung leisten“, sagt Christian Vollmuth.
Analog zum aktuellen Gesetzesentwurf erachtet der BSW eine Beschränkung des Auswahluniversums auf Finanzprodukte mit einer SRI-Risikokategorisierung nach der PRIIPS-VO bis maximal 5 für sinnvoll, fordert jedoch, zusätzlich Unternehmensanleihen sowie Inhaberschuldverschreibungen von Banken – die rechtliche Erscheinungsform der Anlageprodukte unter den strukturierten Wertpapieren – mit entsprechender Risikokategorisierung auf die Positivliste aufzunehmen. Hebelprodukte entfallen aufgrund ihrer Risiken automatisch.
„Innerhalb der definierten Risikokategorien sollten Anleger die freie Wahl haben, auch strukturierte Wertpapiere mit ihren einzigartigen Chance-/Risikoprofilen zur Renditeoptimierung und Risikoreduktion in Altersvorsorgedepots einzusetzen. Selbstentscheider und Beratungskunden halten bereits heute mehr als 100 Mrd. Euro in unseren Anlageprodukten, deren volumengewichtetes durchschnittliches Risiko mit 2,1 deutlich unterhalb von Aktien und Aktienfonds/-ETFs liegt, die zwischen 4 und 6 rangieren“, so Christian Vollmuth.
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Europa und China vor ähnlichen Herausforderungen
Von Dr. Oliver Everling | 18.Oktober 2024
Die wirtschaftliche Lage in Europa und China bleibt angespannt. Während die Europäische Zentralbank (EZB) versucht, die Inflation unter Kontrolle zu bringen, ohne die ohnehin fragile Konjunktur zu gefährden, kämpft China mit tiefgreifenden strukturellen Problemen. Diese Entwicklungen verdeutlichen die globalen Herausforderungen, denen sich Märkte und Regierungen derzeit stellen müssen.
Reinhard Pfingsten, Chief Investment Officer der apoBank, weist darauf hin, dass die Inflation in der Eurozone noch lange nicht besiegt ist. Selbst die EZB rechnet im Schlussquartal mit einer moderaten Gegenbewegung. Obwohl das Inflationsziel von zwei Prozent möglicherweise erst 2025 erreicht wird, sieht Pfingsten dennoch eine Abwärtstendenz bei den Leitzinsen in den kommenden Monaten. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Konjunktur weiterhin schwächelt. Sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungssektor zeigt sich eine anhaltende Schwäche. Pfingsten erwartet deshalb auch keine positiven Impulse durch den kommenden ifo-Geschäftsklimaindex.
Carsten Mumm, Chefvolkswirt der Privatbank DONNER & REUSCHEL, beschreibt einen ähnlichen Trend. Die EZB erwartet in den kommenden Monaten eine steigende Inflation, senkt aber gleichzeitig die Leitzinsen. Dies erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich, doch Mumm erklärt, dass die konjunkturelle Schwäche in der Eurozone, insbesondere in Deutschland, auf das Preisniveau drückt. Statistische Effekte, die kurzfristig eine höhere Inflationsrate bis zum Jahresende begünstigen könnten, werden seiner Ansicht nach durch die gesamtwirtschaftliche Nachfrageschwäche zumindest teilweise ausgeglichen. Zusätzlich wirken sinkende Rohölnotierungen neutral bis negativ auf den Preis-Basis-Effekt, was auch durch geopolitische Spannungen, wie etwa im Zusammenhang mit dem Israel-Konflikt, nicht geändert wird. Mumm hält es daher für wahrscheinlich, dass die Leitzinsen auch im kommenden Jahr gesenkt werden, selbst wenn dies nicht bei jeder Sitzung der EZB der Fall sein wird. Sollte die Konjunktur nicht deutlich an Dynamik gewinnen oder die Energiepreise aufgrund geopolitischer Faktoren steigen, hält Mumm ein Zielniveau zwischen 2,0 und 2,5 Prozent für realistisch. Gleichzeitig erwartet er, dass die Renditen von Staatsanleihen sinken und der Euro schwach bleiben wird. Die jüngsten Wirtschaftsdaten aus China deuten seiner Ansicht nach ebenfalls darauf hin, dass das schwache Wachstum im Reich der Mitte keinen nennenswerten positiven Einfluss auf die europäische Konjunktur haben wird.
In China selbst hat die Regierung unterdessen damit begonnen, Maßnahmen gegen die anhaltende wirtschaftliche Schwäche zu ergreifen. Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE, analysiert das jüngste Maßnahmenpaket, das am 12. Oktober vom chinesischen Finanzminister angekündigt wurde. Er betont, dass es notwendig sei, die strukturellen Schwächen der chinesischen Wirtschaft zu adressieren. Dazu zählen die Immobilienkrise, die hohe Verschuldung der lokalen Regierungen sowie die schwache Konsumnachfrage. Trotz der aggressiveren Vorgehensweise von Regierung und Notenbank ist Viebig der Meinung, dass die angekündigten Maßnahmen nicht ausreichen werden. Zwar wurden finanzpolitische Schritte unternommen, wie die Bereitstellung von 400 Milliarden Renminbi für lokale Regierungen oder die Erhöhung der Schuldenobergrenze, doch diese Maßnahmen adressieren lediglich die Symptome und nicht die tiefer liegenden Probleme.
Die strukturellen Herausforderungen Chinas sind nach wie vor gravierend. Der Konsum stagniert, industrielle Überkapazitäten drücken auf die Preise und die Immobilienkrise belastet weiterhin das Wirtschaftswachstum. Die Marktteilnehmer hätten sich, so Viebig, von der Regierung konkretere Zahlen zur Stimulierung der Nachfrage gewünscht. Diese erhoffen sie sich nun von der kommenden Sitzung des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses Ende Oktober 2024. Zwar haben chinesische Aktien in letzter Zeit Kursgewinne verzeichnet, doch bleibt die wirtschaftliche Unsicherheit hoch.
Auch Carsten Mumm weist auf die schwerwiegenden strukturellen Probleme der chinesischen Wirtschaft hin. Die aktuell schwache Belebung der chinesischen Konjunktur spiegelt sich in einem Wachstum von 4,6 Prozent im dritten Quartal wider, was zwar auf erste fiskal- und geldpolitische Maßnahmen zurückgeführt werden kann, jedoch nicht über die grundlegenden Schwierigkeiten hinwegtäuscht. Besonders auffällig ist der anhaltende Preisverfall im Immobiliensektor, der seit mehr als zwei Jahren zu beobachten ist. Die schwachen Immobilienpreise belasten nicht nur die Konjunktur, sondern auch den Konsum, der bereits durch Unsicherheit und hohe Jugendarbeitslosigkeit geschwächt ist. Mumm sieht die Notwendigkeit für direkte Geldzuweisungen an die Bevölkerung, um den privaten Konsum stärker anzukurbeln. Zudem könnte eine Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Prozessen das Investitionsklima verbessern. Doch bis diese Maßnahmen greifen, bleibt die chinesische Wirtschaft schwach, was sich auch auf Europa auswirkt. Die deflationären Tendenzen in China dämpfen die Inflation in Europa und eröffnen der EZB zusätzlichen Handlungsspielraum.
Trotz der unterschiedlichen Ursachen stehen Europa und China vor ähnlichen Herausforderungen: Beide Wirtschaftsregionen kämpfen mit strukturellen Schwächen, die das Wachstum hemmen und die Inflation beeinflussen. Die globalen Märkte warten daher gespannt auf konkrete Maßnahmen der Regierungen, um die konjunkturelle Schwäche zu überwinden und eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen.
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